Birgit Loos

Leseprobe Jo’s Story

Völlig panisch kam mein Bruder bei meinem Rückzugsort an. Atemlos ließ er sich neben mich auf die Stufen fallen, die zum Rhein hinunterführen.
„Bist du noch zu retten? Mir so eine Email zu schicken? Ich dachte, du bist kurz vorm Eintauchen ins kalte Wasser“, keuchte er. Er hatte eine Decke und seine Arzttasche dabei.
„Habe ich nur kurz in Erwägung gezogen, aber dadurch würde auch nichts besser werden. Außerdem will ich mich nicht meiner Verantwortung für die Kinder entziehen. Dazu liebe ich die beiden viel zu sehr“, sagte ich, wohl wissend, dass ich meinen Bruder damit erst richtig aufregte. Er fasste mich auch gleich mit beiden Händen an den Schultern und sah mir tief in die Augen. „Also jetzt raus mit der Sprache. Was ist los mit dir?“
Ich schluckte mehrmals: „Ich habe Scheiße gebaut. So richtig Scheiße. Ich glaube ich habe alles kaputt gemacht, was mein Leben bisher ausmachte.“
„Okay. Rede! Danach werden wir eine Lösung finden. Es gibt für alles eine Lösung. Sich umzubringen, ist definitiv keine davon. Verstanden?!“ Dabei legte er mir die Decke um die Schulter, brummte in den Bart, ich wäre eiskalt und völlig unvernünftig. Ich nickte zustimmend und erzählte ihm, was ich getan hatte. Eine ganze Weile war es still. Dann sagte Alex leise: „Mensch, Kleiner. Wie ist es denn so weit gekommen?“
Ich ließ meinen Kopf in meine Hände fallen und gab erst einmal keine Antwort. Dann spürte ich, wie Alex seinen Arm um mich legte und mich wortlos an sich zog. Für einen kurzen Augenblick genoss ich den Frieden, den ich durch diese kleine Geste empfand. Dann setzte ich mich auf. Ich fuhr mir nervös mit den Händen durch die Haare und begann mehrmals anzusetzen zu sprechen. Doch kein Wort kam aus meiner zugeschnürten Kehle. Wir saßen eine ganze Zeit wortlos nebeneinander und starrten auf den Strom, der gemächlich an uns vorüberzog. Alex ließ mir die nötige Zeit, die ich brauchte, um die richtigen Worte zu finden. Schließlich holte ich tief Luft und erzählte ihm, was mir die letzten Wochen und Monaten das Leben schwer gemacht hatte und wie es letztendlich zur gestrigen Katastrophe gekommen war.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte ich Alex.
Der seufzte: „Als erstes von den kalten Stufen aufstehen und zusehen, dass wir ins Warme kommen. Hier ist es schweinekalt. Wir holen uns noch eine Lungenentzündung. Dann wirst du nicht herumkommen, mit Alina zu reden, Jo.“
„Ich weiß. Aber was sage ich ihr? Sage ich ihr das mit Camilla? Aber wenn ich ihr all diese Vorwürfe an den Kopf werfe und ihr dann sage, ach übrigens, das ist der Grund, warum ich dich betrogen habe. Du bist an allem schuld. Das fühlt sich auch falsch an.“
Mein Bruder schüttelte den Kopf: „Nein, es ist nicht falsch. Irgendwie stimmt es ja. Du musst es nur in andere Worte packen. Ihr klar machen, dass es nie soweit gekommen wäre, wenn sie dich nicht völlig aus ihrem Leben ausgeschlossen und nur noch ihren Arbeitnehmer in dir gesehen hätte. Du bist nicht der Typ Ehebrecher. Das sollte nach all den Jahren auch Alina wissen.“
Ich schnaubte verächtlich, weil ich eben doch ein Ehebrecher war.
„Wo ist diese Camilla eigentlich abgeblieben?“, drang Alex in meine Gedanken. Ich zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Warum?“
„Weil ich mich frage, wie ein Mensch, der behauptet Alinas beste Freundin zu sein, hingehen, sie mit ihrem Ehemann betrügen und dann einfach wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Da steckt doch noch mehr dahinter. Du hast gesagt, sie wollte noch einige Zeit hierbleiben. Will sie jetzt dich besuchen, weiter mit dir durch die Betten springen und mit Alina auf best friends for ever machen, für die restliche Zeit, die sie da ist?“
Ich schüttelte den Kopf: „Du bist wirklich unmöglich. Mir braucht Camilla auf jeden Fall nicht mehr zu kommen. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben.“ Alex stand auf und zog mich ebenfalls in die Höhe.
„Okay, aber was ist, wenn sie bei Alina auftaucht? Spielt sie die Unschuld vom Lande und weiterhin die treue Freundin oder ist sie so abgebrüht und weiht deine Frau in ihre und deine Freizeitaktivitäten ein? Denn bevor das geschieht, dann solltest du dich vielleicht doch lieber beeilen und Alina reinen Wein einschenken, bevor es diese gute Freundin tut.“, sagte er mit ernstem Ton.

Alina saß im Wohnzimmer und starrte an die Wand. Sie sah müde und erschöpft aus. Genauso wie ich mich fühlte. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie stark an Gewicht verloren hatte und ihr Haar farblos und strähnig war. So gerne ich ihr alleine den schwarzen Peter zugeschoben und sie für die ganze Misere verantwortlich gemacht hätte, musste ich mir bei ihrem Anblick eingestehen, dass auch ich meine Frau in der letzten Zeit nicht beachtet hatte, sonst wäre mir schon viel früher aufgefallen, dass sie sich auch äußerlich verändert hatte und nicht zu ihrem Vorteil. Ihre Wangenknochen stachen hervor und sie war nicht mehr schlank, sondern hager. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Doch bevor ich sie auch nur fragen konnte, ob es ihr nicht gut ginge, setzte sie sich auf und sagte leise: „Wir müssen miteinander reden, Jo.“
Ich nickte. Ja, wir mussten miteinander reden. Dringend. „Das wollte ich auch gerade sagen. Ich muss dir etwas sagen, etwas Wichtiges. Ich habe…“
Sie unterbrach mich: „Ich weiß. Ich komme gerade von Camilla. Sie ist übrigens abgereist, zurück nach… Ehrlich gesagt, ich weiß es gar nicht, wohin. Es hat mich auch nicht weiter interessiert, wie du vielleicht verstehen wirst.“
Ich seufzte. Dieses Miststück. Alex hatte recht, ich verstand diese ganze Aktion von Camilla nicht. Erst machte sie mich an, dann hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als meinen Betrug meiner Frau zu stecken und danach haute sie ab und ließ uns mit diesem verdammten Scherbenhaufen, zu dem unsere Ehe geworden war, zurück. Ziemlich merkwürdig für eine beste Freundin. Aber im Moment wohl eher zweitrangig. Sie wäre nie damit durchgekommen, wenn unsere Liebe noch so stark wie vor einigen Jahren gewesen wäre.
„Es tut mir leid“, sagte ich. Das war zwar das Dümmste das ich sagen konnte, aber die Worte kamen einfach so aus mir heraus. Ich konnte sie nicht zurückhalten. Es war genau das, was ich fühlte. Alina schnaubte verächtlich auf: „Weißt du, was das Schlimmste an dieser Sache ist? Nicht, dass du mich mit meiner Freundin betrogen hast. Nein, dass du dich genauso verhältst, wie man es erwartet. Es tut dir also leid. Fein, das will jede Frau üblicherweise von dem Mann hören, der sie betrogen hat. Es tut dir leid. Super, Jo. Immer schön politisch korrekt bleiben.“ Sie lachte höhnisch, während ich vor ihr stand, wie ein Schulbub, der von seiner Lehrerin abgekanzelt wurde und absolut nicht verstand, was sie mir eigentlich sagen wollte.
„Es ist echt ein Witz, Jo. Selbst dein Seitensprung war so vorhersehbar. Camilla musste nur die richtigen Strippen ziehen. Sie hörte dir ach so verständnisvoll zu, wie du dich bei ihr über mich und unsere Ehe beklagtest, dann jammerte sie dir vor, wie einsam und allein sie sei, machte dich scharf und du … Genau, wie sie es erwartete, hast du der Versuchung nachgegeben. Du bist so vorhersehbar. Es wäre schön gewesen, wenn du einmal, nur ein einziges Mal, das Unerwartete getan hättest.“
Ich starrte sie nur an. Mir fiel nichts ein, das ich entgegnen konnte. Ihre Vorwürfe trafen mich bis ins Mark. Alina stöhnte: „Mein Gott, Jo. Sei doch einmal unberechenbar. Starr mich nicht an wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Geh aus dir raus und tu etwas völlig Unerwartetes. Sei nicht stets so phlegmatisch, so ohne jedes Feuer. Sei endlich mal ein Kerl.“
Ich sollte etwas Unerwartetes tun, etwas womit sie nicht rechnete. Verdammt, das konnte sie haben. Ich ging mit schnellen Schritten auf sie zu, riss sie von ihrem Sofa hoch und ehe sie es sich versah, drückte ich sie an die Wand. Ihre Augen wurden riesengroß und sie starrte mich ängstlich an. Meine Größe von 1,90 m und mein Körper, der es gewohnt war, schwere Arbeit zu verrichten, erschreckten sie. Ich ignorierte ihre Angst, die plötzlich in ihren Augen zu sehen war und sagte böse: „Du willst also, dass ich etwas Unerwartetes tue? Wie wäre es damit? Ich reagiere wie mein Vater und zeige dir auf drastische Art und Weise, was passieren kann, wenn ich aus mir herausgehe. Du willst, dass ich unberechenbar bin, das kannst du haben.“ Sie schrie leise auf und versuchte mich wegzudrücken. Ich fing ihren Arm, mit dem sie mich zu schlagen versuchte, ab und presste sie mit meinem Körper an die Wand. Sie keuchte auf und ich merkte plötzlich, was ich da tat. Ich ließ sie los und ging mit schnellen Schritten zum Fenster hinüber. Während ich mich am Rahmen festhielt und tief Luft holte, versuchte ich vergeblich, mir darüber klar zu werden, was zur Hölle ich da soeben tun wollte. Hatte ich wirklich vorgehabt, meiner Frau weh zu tun? Das Bild meines Vaters, wie er auf unsere Mutter losging, kam in mir hoch. Aber ich war nicht wie er. Auf keinen Fall wollte ich wie er sein.
„Es tut mir leid, Alina“, flüsterte ich. „Ich weiß nicht, was da gerade in mich gefahren ist.“ Sie stand noch immer an der Wand, starrte mich mit ihren grünen Augen an, als wäre ich ein Axtmörder.
„Du solltest lieber gehen, Jo. Ich möchte, dass du diese Wohnung verlässt. Du hast recht, du bist wie dein Vater. Keinen Deut besser als er. Morgen spreche ich mit meinem Anwalt und reiche die Scheidung ein. Und glaub nur nicht, dass ich es zulasse, dass du das Sorgerecht für die Kinder bekommst. Ich werde dafür sorgen, dass die Jungs ohne dein schlechtes Beispiel groß werden. Lieber keinen Vater, als so einer wie du. Ich will nicht, dass du mir oder meinen Kindern noch einmal zu nahe kommst. Hast du mich verstanden? Verschwinde!“
Ich starrte sie an. Das konnte sie nicht ernst meinen. Das war Unsinn, was sie da sagte. Ich würde meinen Kindern nie weh tun, genauso wenig wie ihr. Sie hatte mich wütend gemacht, deshalb hatte ich die Beherrschung verloren. Dafür konnte sie mich doch nicht von meinen Kindern fernhalten?
„Das meinst du nicht ernst?“, flüsterte ich erstickt.
Sie sah mich an wie ein ekliges Insekt und nickte: „Doch, genau das meine ich. Du bist nicht der Mann, der meine Söhne erziehen soll. Du bist viel zu labil und hast null Ehrgeiz. Außerdem hast du mir gerade bewiesen, dass du dich nicht im Griff hast. Meine Kinder brauchen einen Vater, der ihnen ein Vorbild sein kann. Anders als du.“
Ihre Worte trafen mich wie Pfeile ins Herz. Ich war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Das war das Bild, das sie von mir hatte? Das war übrig geblieben von unserer Liebe?
„Wie du willst“, sagte ich, drehte mich um und ging in unser Schlafzimmer. Mit wenigen Griffen packte ich meine Sporttasche. Ein paar T-Shirts, Jeans, Unterwäsche, Strümpfe, einen Sweater. Im Bad stopfte ich meinen Rasierer, meine Zahnbürste und ein paar andere Hygiene-Artikel in die Tasche. Ich schnappte mir meine Jacke, meine Autoschlüssel, mein Handy und den Akku, der auf den Tisch lag und stürmte an Alina vorbei aus dem Haus. Ein letzter Blick auf sie, zeigte mir, wie sie langsam an der Wand entlang auf den Boden rutschte, den Kopf in ihre Arme vergrub und weinte. Doch es war mir egal. Ich musste hier raus.

Ich wachte auf einem Parkplatz auf und fragte mich im ersten Moment erstaunt, wo ich mich befand. Ächzend schraubte ich mich von der Rückbank meines Wagens und trat ins Freie. Das Auto stand auf einem riesigen, weitgehend leeren Parkplatz. Ich konnte mich absolut nicht erinnern, wie ich dort hingekommen war.
Gestern Abend hatte ich mich voller Wut und verletztem Stolz in mein Auto gesetzt und war einfach losgebraust. Stundenlang. Nur weg, war mein Gedanke gewesen. Suchend sah ich mich um, ob es irgendein Schild gab, irgendeinen Hinweis, wo ich sein könnte. Ich hatte einen totalen Blackout und das ohne Alkohol oder Drogen zu mir genommen zu haben. Der Fernsehturm und das riesige Glasdach, das durch die Bäume schimmerten machten mir klar, wo ich mich befand. München. Langsam kam auch die Erinnerung zurück. Irgendwann in der Nacht, hatte ich die Ausfahrt München erspäht und weil ich müde und erschöpft war, setzte ich den Blinker und bog ab. Ich hatte keinen Plan, wo ich hinwollte und fuhr einfach durch die nächtlichen Straßen, auf der Suche nach … Ja, das konnte ich im Nachhinein auch nicht mehr sagen. Dann sah ich die Schilder „Olympiapark“ und fuhr ihnen einfach nach. Und jetzt stand ich da. Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass es kurz vor zwölf Uhr am Mittag war.
Ich ging zum Kofferraum. Irgendwo dort hinten musste ich noch ein Flasche Wasser haben. Meine Kehle war völlig ausgetrocknet. Im Kofferraum fand ich nicht nur die gesuchte Flasche Wasser, sondern stellte fest, dass sich dort auch die Muster für Alinas neuen Kunden, den wir heute gemeinsam aufsuchen wollten, befanden. Ich konnte mir ein gemeines Grinsen nicht verkneifen bei der Vorstellung, wie Alina diese Tatsache ihrem Kunden beibringen wollte. Ich setzte die Flasche an den Hals und trank sie leer. Wie sollte es jetzt weitergehen? Mein Verband war verrutscht und vorsichtig öffnete ich ihn und besah mir die Wunde. Nach meinem laienhaften Wissen, schien alles in Ordnung zu sein. Ich wickelte den Verband so gut es ging wieder um die Wunde und überlegte mir den nächsten Schritt. Mein Blick fiel auf das Schild mit der U-Bahn-Station. Erneut durchsuchte ich den Kofferraum, holte meinen Kulturbeutel aus der hastig gepackten Sporttasche hervor und machte mich auf dem Weg zur U-Bahn-Station. Dort würde es bestimmt eine Toilette geben und ich konnte mir zumindest die Zähne putzen, um den ekligen Geschmack von der Zunge bekommen.
Auf dem Rückweg zu meinem Auto kaufte ich mir eine Tageskarte für die Münchner Verkehrsbetriebe. Ich warf meinen Kulturbeutel wieder in den Wagen und fuhr dann mit der nächsten Bahn in die Innenstadt. Ziellos lief ich durch die Gegend. Keine Ahnung, wo ich überall war. Ich sah nichts, ich hörte nichts, war völlig in meine eigenen Gedanken vertieft. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich nicht stillstehen konnte. Ich musste mich bewegen. Irgendwann bekam ich Hunger und kaufte mir in einer Metzgerei eine Weißwurst und Kartoffelsalat. Dann lief ich weiter.
Einmal kam mir der Gedanke, dass ich meine Familie anrufen sollte. Sie machten sich bestimmt Sorgen, wo ich abgeblieben war. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte mit niemanden sprechen. Zu tief saßen Alinas Vorwürfe und noch immer konnte ich sie schreien hören, dass sie nicht zulassen würde, dass ich meine Söhne verdarb. Das hatte mich bis ins Mark getroffen. Ich liebte meine Kinder über alles. Ich war vielleicht nicht der Weltmann, den Alina sich als Vorbild für die beiden wünschte, aber ich war ein verdammt guter Vater. Ich war nicht wie mein Vater, auch wenn Alina das behauptete. Sie hätte mir auch ein Messer zwischen die Rippen stecken können, es hätte nicht mehr schmerzen können. Ich drängte den Gedanken wieder in die hintere Ecke meines Gehirns und lief einfach weiter. Nur nicht nachdenken.
Es dunkelte bereits wieder und ich hatte keinen Schimmer wo ich war. In den letzten Stunden war ich ständig kreuz und quer gefahren, mit Bussen und der U-Bahn. Dann war ich wieder gelaufen, bis ich nicht mehr konnte und hatte mich in das nächste Fahrzeug gesetzt, egal ob Bus oder U-Bahn, ohne darauf zu achten, wo dieses hinfuhr.
Langsam ging ich die Straßen entlang und überlegte, wie ich am besten wieder zum Olympiapark und meinem Auto kam. Und vor allem, was ich dann tun sollte. Wieder nach Hause fahren? Mich meiner Chefin stellen und mir eine Abmahnung wegen unentschuldigtem Fehlens am Arbeitsplatz geben lassen? Bei meinen Geschwistern oder meiner Mutter unterkriechen? Ich schüttelte mich. Auf keinen Fall!

© 2014 VisCom Kontaktieren Sie mich