Birgit Loos

Siehst du die Morgenröte, ist deine Nacht vorbei

Ricardo
Mein Name ist Ricardo Zaremba. Ich bin dreizehn Jahre alt und werde soeben wegen des Mordes an meinem Stiefvater Ronny Gabes vernommen.
„Jetzt erzähl mal genau was passiert ist,“ fordert mich die Kommissarin auf, deren Name ich mir nicht gemerkt habe. Genauso wenig könnte ich den Namen der Sozialarbeiterin nennen, die neben mir sitzt und mich aufmerksam beobachtet. Sie erklärte mir, weshalb sie da ist, aber nichts von dem was sie mir sagte, habe ich wahrgenommen.
Nichts interessiert mich weniger. In meinen Gedanken bin ich zu Hause. Einem zu Hause, das, es nicht mehr gibt. Ich schaue aus dem Fenster und verweigere die Aussage. Dieses Recht habe ich, das weiß ich, aus zahlreichen Krimis, die in Endlosschleifen im Fernsehen laufen. Ich muss mich nicht selbst belasten und ich brauche auch niemanden aus meiner Familie zu belasten. Deshalb schweige ich. Abgesehen davon, ich bekäme auch kein Wort heraus. Ich kann nicht darüber reden, was passiert ist, selbst wenn ich es wollte. Es geht einfach nicht. Ich habe Eis in meinen Adern.
Das Einzige, was ich wirklich möchte, ist meinen kleinen Bruder Yannik sehen. Er ist erst zwölf Jahre alt und ich habe keine Ahnung, wie er diesen Alptraum überstehen wird. Er braucht mich. Ich brauche ihn. Wenn ich nur wüsste wohin sie Yannik gebraucht haben.

Ein zweiter Mann betritt den Raum. Er flüstert kurz mit der Kommissarin. Diese sieht mich mitleidig an. Ich schlucke mehrfach, versuche alles um nicht zu weinen. Ich will nicht weinen. Nichts würde sich dadurch verändern.
„Ich will nach Hause!“, schießt es mir durch den Kopf. „Ich will zu meiner Mutter!“ Doch ich weiß, dass das unmöglich ist. Diese Erkenntnis macht sich wie glühende Lava in meinem Körper breit und ich bekomme kaum mehr Luft.
Yannik und ich, wir haben kein zu Hause mehr. Wir haben auch keine Mutter mehr. Wir haben nur noch uns.

Vier Jahre später
Ricardo

Stöhnend wache ich auf. Es dröhnt in meinen Ohren und mein Kopf scheint zu zerplatzen. Ich stöhne erneut und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Ich will nicht aufstehen. Mein Bruder zieht mir die Decke weg: „Mach schon, Rico. Wir müssen zur Schule.“ Genervt fahre ich meinen kleinen Bruder an: „Lass mich gefälligst in Ruhe! Mir ist schlecht!“
In diesem Moment erscheint unsere Stiefmutter. Sie reißt die Tür auf und ruft mit dieser lauten, fröhlichen Stimme: „Aufstehen, Jungs! Es wird Zeit!“ Wie jeden Morgen frage ich mich, wie es möglich ist, dass man so früh am Morgen, so aufgesetzt fröhlich sein kann.
„Mir ist nicht gut. Ich glaube ich muss spucken,“ jammere ich, springe auf und renne ins nahegelegene Bad. Meine Stiefmutter folgt mir misstrauisch.
„Schreibt Ihr etwa eine Arbeit?“, will sie wissen. Statt zu antworten beuge ich mich über die Schüssel und werde meinen Mageninhalt los. Rina ergreift die Flucht. Ihr wird schlecht, sobald sich jemand übergeben muss. Es ist schon passiert, dass sie neben ihren Kindern kniete und sich gemeinsam mit diesen übergab. Ich sehe ihr erleichtert hinter her und beuge mich erneut über die Schüssel. Rinas Aversion ist mein Glück. So bekommt sie nicht mit, dass ich nach Alkohol stinke und in der Hauptsache Flüssiges wieder von mir gebe.
Ich höre sie hinter der geschlossenen Tür würgen und bin erleichtert, weil ich auch weiterhin den Grund für meine Übelkeit verbergen kann. Ich suche blind nach einem Waschlappen um mich zu säubern. Zum Glück für mich ist auch mein Vater nicht im Haus, denn diesen hinters Licht zu führen, wäre mir sehr viel schwerer gefallen. Ich muss mich schwer zusammenreißen um das Bad wieder einigermaßen sauber zu bekommen, dann schleppe ich mich zurück in mein Schlafzimmer und krieche wieder unter die Decken. Aber vorher öffne ich noch die Fenster und lasse Frischluft herein. Ich muss unbedingt vermeiden, dass mein Vater und Rina die Wahrheit über meinen Absturz gestern Abend herausfinden. Diese Predigt muss ich nicht haben. Mein Vater ist bei der Polizei. Seit ich vierzehn bin, erzählt er ständig von seinen Einsätzen, bei denen Kids meines Alters und jünger sich mit Alkohol abgeschossen haben. Komasaufen nennt er das und warnt Yannik und mich eindringlich vor den Folgen dieser Alkoholexzesse. Seine Drohungen, was er mit uns beiden machen würde, sollten wir jemals von seinen Kollegen volltrunken zu Hause abgegeben werden, lassen mich nur milde lächeln. Der Mann hat keine Ahnung. Bisher habe ich es noch immer alleine nach Hause geschafft. Auch gestern Abend. Obwohl ich gestern zweifellos übertrieben habe.
Yanni ist mittlerweile angezogen und sieht mir schweigend zu, wie ich wieder ins Bett falle und die Decken über mich ziehe. „Rico, kannst du die Scheiße bitte sein lassen? Was bringt dir das denn? Dir ist nur schlecht und du versäumst die Schule.“
„Scheiß auf die Schule. Ich werde dir sagen, was es mir bringt. Ich kann schlafen ohne dass ich jede Nacht von Alpträumen geplagt aufwache. Es wird jedes Mal schlimmer und mittlerweile tue ich alles, um ein bisschen Ruhe und Frieden zu finden. Also Scheiß, auf die Folgen!“
Yanni brummelt etwas vor sich hin. Dann höre ich wie die Tür hinter ihm zuschlägt. Ich bin allein. Allein mit meinen Gedanken, die wieder einmal Rad schlagen hinter meiner Stirn.
Ich weiß, dass mein Bruder sich große Sorgen um mich macht. Aber weder er noch ich wissen, was wir tun können, um den Dämonen Herr zu werden, die sich immer wieder über uns hermachen. Ich versuche meine Angst mittlerweile zu ertränken. Zuerst waren es nur ein paar Gläser am Wochenende, wenn ich mit meinen Freunden unterwegs war. Doch gestern Abend habe ich zum ersten Mal richtig zugeschlagen und mir die Lichter ausgeschossen. Und das auch noch an einem Wochentag. Ich weiß nicht, wie ich es nach Hause geschafft habe, aber heute Morgen lag ich in meinem Bett.
Im Gegensatz zu mir bekämpft Yanni seine Dämonen mit exzessiven Sport. Er trainiert bis er kurz vor dem Umfallen ist und ihm alle Knochen weh tun. Wenn ihm das keine Erleichterung bringt, dann schneidet er sich. Ich sehe es an den Pflastern, die er dann trägt. Meistens an der Ferse, seltener am Handgelenk oder an einem Finger. Er ist das Sportass unserer Schule, da fällt es nicht auf, wenn er sich hin und wieder verletzt.
So wie Yanni selten mit mir über mein Alkoholproblem redet, so vermeide ich es mit ihm über seine Probleme zu sprechen. Was sollte das auch nützen?
Manchmal frage ich mich, was unsere Mutter wohl sagen würde, wenn sie wüsste, was aus ihren Kindern geworden ist. Sie war immer unsere Heldin, die stets für uns kämpfte und sich krumm arbeitete, um uns all das bieten zu können, was für andere Kinder selbstverständlich war. Unser Stiefvater zog es vor sich seinen Hintern vor dem Fernseher platt zu liegen und kernige Sprüche über das Leben von sich zu geben, während sie drei Arbeitsstellen hatte und am Wochenende noch das Wochenblatt austrug.
Mein Vater hat unsere Familie verlassen, als ich sechs und Yannik fünf war. Ich war zu jung um die Gründe zu verstehen. Auf einmal war er nicht mehr da und wir waren allein. Bis zu dem Zeitpunkt als Mama Ronny mit nach Hause brachte und unser Leben völlig aus dem Ruder geriet.
Zu meinem Vater hatten wir zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mehr. Es war als hätte es ihn nie gegeben. Mama erwähnte ihn nach seinem Auszug nicht wieder. Er tauchte erst wieder in unserem Leben auf, als die Sache mit Ronny eskalierte und das Jugendamt verzweifelt nach Angehörigen suchte, bei denen sie Yannik und mich parken konnten.
Ich sitze auf meinem Bett mit meinem Zeichenblock auf den Knien und fertige ein Bild an, das meinem gestrigen Alptraum entspricht. Einzelne Lichtstrahlen kämpfen gegen das Dunkel. Die Fratze des „Dunkel“ ist verzerrt und furchterregend. Seine Gesichtszüge haben Ähnlichkeit mit einer großen, tödlichen Echse und sind doch klar erkennbar.
Als meine Welt noch in Ordnung war hat mein Vater mir einen Zeichenblock und alle möglichen Zeichenutensilien geschenkt. Es war ein teures Geschenk, aber er war so stolz auf mich, weil ich bei einem Zeichenwettbewerb in unserer Schule den ersten Preis gewann. Der Zeichenlehrer ließ meine Eltern wissen, dass ich ein großes Talent habe, das man nicht brach liegen lassen dürfe. Doch das ist Millionen von Jahren her. Ich male noch immer und bin im Kunstunterricht einer der Besten, doch meine wirklich guten Zeichnungen zeige ich nur Yannik.
„Na, wie geht es dir? Alles wieder okay?“. Die Tür geht auf und Rina steht im Türrahmen. Ich nicke und erkläre ihr, dass es mir schon sehr viel besser geht. Gleichzeitig frage ich mich, wie sie so naiv sein kann und mir das ganze Theater einfach abnimmt, ohne es groß zu hinterfragen.
Rina betritt mein Zimmer, stellt sich neben mich und sieht auf meine Zeichnung. „Ziemlich düster. Findest du nicht?“
Ich zucke mit den Schultern: „Ist eben Kunst,“ nuschele ich. Meine Düsternis geht sie nichts an. „Ist noch was?“, frage ich sie genervt, als sie weiterhin neben mir stehen bleibt und mit nervösem Augenaufschlag meine Zeichnung begutachtet. Sie beißt sich auf die Lippen und flüstert: „Nein!“ Dann dreht sie sich um und geht wieder. Doch an der Tür überlegt sie es sich anders. Sie sieht mir direkt in die Augen und haut mich mit ihrer nächsten Frage fast aus den Socken: „Ricardo, dir ist doch klar, wenn du Sorgen oder Probleme hast, dann kannst du jederzeit zu mir kommen und mit mir sprechen? Das weißt du doch?“
Ich reiße meinen Kopf hoch, darauf hoffend, dass ich nicht knallrot werde, während ich versuche ihrem durchdringendem Blick auszuweichen. „Ich habe keine Probleme,“ lüge ich.
„Nein, es ist alles Bestens. Wir sind eine Bilderbuchfamilie. Eine Patchwork-Family aus dem Märchenbuch,“ spottet sie, während ihr Blick noch immer auf mich gerichtet ist, als wollte sie mich zwingen, ihr zu widersprechen. Doch das kann sie vergessen. Ich nicke bekräftigend und bestätige ihr: „Eben, genau. Könnte gar nicht besser sein.“
Meine Stiefmutter stößt einen tiefen Seufzer aus und wendet sich erneut zum Gehen. Doch dann hält sie inne. Sie kommt zu mir, setzt sich auf mein Bett und nimmt meine Hand.
„Diese Familie ist meisterhaft im Verdrängen. Alles was nicht sein darf, ist nicht. Dein Vater ist hervorragend darin die Augen zu verschließen. Er kommt einfach so nach Hause, hat zwei Kinder im Schlepptau, die einen Alptraum hinter sich haben und erwartet, dass wir ab sofort eine Familie sind und Friede, Freude, Eierkuchen verbreiten. Er aber geht wie bisher jeden Tag zu seiner Arbeit und überlässt mir die Erziehung seiner Kinder. Selbstverständlich bin ich für euch verantwortlich. Probleme gibt es für deinen Vater nicht. Er hat seinen Job und ich habe meinen. Er fragt nicht einmal, ob alles in Ordnung ist. Er geht einfach davon aus, dass es so ist.“
Ich sehe zu meiner Stiefmutter auf und frage mich, was ich von ihrem Sermon halten soll. Hatte sie Streit mit unserem Vater? Braucht sie jemanden bei dem sie sich ausweinen kann? Falls ja, dann bin ich der denkbar Ungeeignetste dafür.
Rina sieht, dass ich nervös in meinem Bett hin und her rutsche und vergeblich nach einer Antwort suche. „Schon gut, Rico. Du musst nichts sagen. Nicht jetzt! Aber ich bitte dich von ganzem Herzen, denk noch einmal darüber nach, was ich dir gerade sagte. Falls es irgendetwas gibt, worüber du reden möchtest, dann komm zu mir. Egal, was es auch ist. Ich werde versuchen dir zu helfen. Trinken hat noch nie jemanden geholfen, seine Probleme zu lösen. Im Gegenteil, wenn du dich umhörst, dann wirst du erfahren, dass man seine Probleme damit nur noch vergrößert.“
Schamesröte steigt in meine Wangen und ich will wortreich ihre Verdächtigung zurückweisen, doch Rina lässt das nicht zu: „Spar dir die Kraft, Ricardo. Ich weiß, was ich weiß. Komm zu mir, wenn du mir etwas zu sagen hast. Aber warte nicht zu lange. Irgendwann muss ich es deinem Vater sagen und diesen mit der Realität bekannt machen.“ Sie streichelt mit liebevoll über die Wangen, steht auf und verlässt endgültig mein Zimmer.
Entsetzt sehe ich meiner Stiefmutter nach. Sie weiß es! Sie wird es Vati sagen! Was mache ich denn jetzt? Mit zitternden Knien stehe ich auf und gehe zu meinem Rucksack. Ich hole mir die letzte Dose Bier heraus, die von unserer gestrigen Sauferei noch übrig ist, öffne diese und setze sie an. Mit drei großen Schlucken leere ich die Bierdose. Wärme steigt in meinem Kopf auf. Der Aufruhr meiner Gedanken legt sich etwas. Aber nicht viel. Ich würde am liebsten tot umfallen. Was soll ich nur tun? Verdammt, Rina weiß es. Ich bin so am Arsch!

Yannik

Sobald die Schule aus ist, schnappe ich mir meinen Rucksack und laufe los. Meine Schwestern werden jeden Tag von ihrer Mutter abgeholt, wenn Rina ihren Halbtags-Job hinter sich gebracht hat. Selbstverständlich könnten Rico und ich auch mit ihr nach Hause fahren. Aber ich laufe lieber und Rico leistet mir meistens Gesellschaft. Das hält uns beide fit. Allerdings ist mein großer Bruder nicht ganz so schnell wie ich und deshalb nutze ich heute die Gelegenheit aus, um mich total auszupowern. Ich habe einen Gewaltmarsch vor. Zuerst laufe ich Richtung Rhein und dann am Ufer entlang, weit über meinen Wohnort hinaus. Kaum bin ich außerhalb der Stadt, lege ich richtig los. Ich höre erst auf zu rennen, als mir speiübel ist. Ich bekomme keine Luft mehr, habe Seitenstechen und mein Magen revoltiert. Keuchend lasse ich mich einfach am Wegesrand zu Boden gleiten und versuche Luft in meine brennenden Lungen zu bekommen. Dann nimmt die Übelkeit überhand und genau wie Rico, heute Morgen, beuge ich mich zur Seite und übergebe mich. Nachdem alles Essen seinen Weg nach draußen gefunden hat, lasse ich mich erschöpft ins Gras fallen. Ich starre in den Wolkenhimmel und denke mir, dass ich bei meinem Pech heute auch noch von oben nass werde. Aber fürs erste bin ich ausgebrannt, meine Beine zittern und ich brauche noch einige Zeit um mich zu erholen.
Als ich endlich wieder normal atmen kann, mache ich mich auf den Rückweg. Zuerst langsam, weil meine Beine noch immer zittern und ich im Grunde nichts mehr möchte, als mich hinzulegen. Aber hier draußen am Deich ist das schlecht möglich. Mit der Zeit kommt meine Kraft wieder zurück und ich lege wieder an Tempo zu. Rina hat mich schon zweimal angemailt, wo ich denn bleibe.

Völlig ausgepumpt erreiche ich das Haus meines Vaters. Rina sieht mir kopfschüttelnd zu, wie ich meinen Rucksack einfach im Flur fallen lasse, meine Schuhe abstreife und in die Küche wanke, um mir etwas zu trinken zu holen. Ich bin völlig ausgebrannt. Meine Kehle ist so trocken, dass ich kein Wort mehr herausbekomme. Mein Vater ist in der Küche. Entsetzt sieht er mich an: „Um Himmels willen, Yanni. Wo kommst du denn her? Was zum Teufel hast du denn gemacht, dass du so außer Atem bist?“
„Trainiert,“ japse ich, ergreife eine Flasche Wasser, setzte mir diese an den Hals und trinke so viel ich nur kann. Die Hälfte der Brühe läuft mir aus dem Mund, weil ich kaum fähig bin zu schlucken. Ich lasse mich auf einen freien Stuhl fallen und strecke meine schmerzenden Beine aus. „Was ist?“, frage ich meinen Vater, weil dieser mich noch immer ansieht, als wäre ich gerade vom Himmel gefallen.
„Ich finde du übertreibst, Yanni. Sport ist ja gut und schön. Aber das was du machst, kann nicht gesund sein. Du bist schweiß gebadet. Dein Trikot kann man ausdrehen. Außerdem bist du weiß wie die Wand hier, was mir sagt, dass du dich völlig verausgabt hast. Ich kann nicht glauben, dass dein Trainer so etwas befürwortet.“
„Ach, Vati,“ versuche ich ihn zu beruhigen. „So schlimm, wie du das darstellst, ist es nicht. Ja, ich habe mich etwas verausgabt. Aber ich habe auch eine Superzeit herausgeholt. Mach dir mal keinen Kopf. Es gibt wahrlich Schlimmeres, um das du dich kümmern musst.“ Zum Beispiel um deinen ältesten Sohn, der langsam aber sicher immer mehr abrutscht. Doch das sage ich natürlich nicht laut. Stattdessen stehe ich auf und humple in unser Zimmer. „Ich gehe duschen. Ruft mich wenn es Essen gibt.“
Mein Vater nickt und ruft mir noch hinterher, dass ich Rico fragen soll, ob er mittlerweile schon wieder etwas essen kann oder ob ihm noch immer schlecht ist. Ich murmele ein genervtes: „Ja, ja, ja.“, und verschwinde im Badezimmer.
In unserem Zimmer sitzt Rico noch immer auf seinem Bett, seinen Zeichenblock vor sich auf den Knien und kaut auf einer seiner langen Haarsträhnen herum.
„Na, wieder unter den Lebenden?“, kann ich mir nicht verkneifen zu fragen.
Rico schüttelt den Kopf und flüstert dann: „Sie weiß es.“
Ich starre meinen Bruder verständnislos an: „Wer weiß was?“
„Rina. Sie weiß das mit der Trinkerei.“ Ricos Gesicht ist fahl und das nicht nur, weil er heute Morgen die Toilettenschüssel eng umschlungen hielt. Ein Seufzer entfährt mir und ich lasse mich neben ihn auf das Bett fallen. „Wie denn das?“
„Weiß nicht.“ Rico dreht verzweifelt seine Haarsträhne zwischen seinen Fingern. Ich nehme seine Hände in meine und halte sie fest. „Was genau hat Rina zu dir gesagt?“, will ich von ihm wissen. Vielleicht fällt uns noch eine Ausrede ein.
Rico stöhnt: „Ich könnte jederzeit zu ihr kommen, wenn ich Probleme habe und dass, Trinken die Probleme nicht lösen, sondern nur verschlimmern würde.“ Ich weiß nicht was ich sagen soll, denn ich finde Rina hat da gar nicht so unrecht. „Was noch?“
„Sie hat gesagt, dass unser Vater ein Meister im Verdrängen ist, wie überhaupt alle in dieser Familie sich vor der Realität verstecken würden.“
Ich bin völlig überrascht, weil ich Rina solche Einsichten nicht zugetraut habe. Aber im Moment hilft uns das auch nicht weiter. Ich seufze und schaue mir stattdessen das Bild an, das Rico gerade gezeichnet hat. Es stellt anscheinend sein Gespräch mit Rina da. Während ein schuldbewusster Rico auf dem Bett sitzt, steht ihm Rina gegenüber und redet auf ihn ein. Hinter Rico ist die Wand dunkel und gemeine Fratzen, die an ihm zerren erscheinen aus diesem Dunkel. Rina steht im Licht, doch Rico kann ihre Hände nicht erreichen, weil die Fratzen ihn gefangen halten.
Ich lege meinen Arm um Rico und frage ihn leise: „Und jetzt?“
„Weiß nicht.“
Ich seufze wieder und sehe ihm tief in die Augen: „Sie hat recht, weißt du? Hör auf mit dem Scheiß.“
„Kann ich nicht.“ Ricos Stimme ist tonlos. Seine Augen suchen meine und ich sehe die Hoffnungslosigkeit darin.
„Warum nicht? Erkläre es mir doch!“, fordere ich ihn auf. Dabei weiß ich die Erklärung bereits.
Rico stöhnt, streicht sich die langen Haare aus der Stirn und sieht mich vorwurfsvoll an: „Blöde Frage. Findest du nicht?“
Beschämt nicke ich. Rico trinkt. Ich renne bis zur Bewusstlosigkeit. Und wenn das nicht mehr hilft, dann hole ich mir meine Rasiermesser und schneide mir die Fußsohlen auf oder in meine Zehen, damit es nicht auffällt. Ich habe mal gehört, dass das Schneiden mehr eine Mädchensache sei, aber es gibt eben auch Jungen, die das machen. Was ist auch schon dabei? Mir wäre lieber Rico würde sich ebenfalls hin und wieder schneiden, das wäre gesünder für ihn. Andererseits kann Rico seit jenem Tag im März kein Blut mehr sehen. Sobald er auch nur einen Tropfen Blut zu Gesicht bekommt, wird er grün und kippt um.
„Was soll ich Rina denn sagen?“, holt mich Rico aus meinen Gedanken. „Sie will zu Vati gehen, wenn ich nicht mit ihr rede.“
Wir sehen uns an. Wissen wir doch beide, dass unsere Lage nicht besser wird, wenn Rina mit unserem Vater spricht. Ganz im Gegenteil.
„Lass dir was einfallen,“ fordere ich Rico auf. „Du bist doch der Kreative von uns beiden. Du schreibst die Songtexte für unsere Band und hast die „Eins“ im Aufsatz. Da wird dir doch eine Erklärung einfallen, warum du einmal einen über den Durst getrunken hast.“
„Du weißt genau, dass es mehr als einmal war,“ Rico ist noch nicht überzeugt.
„Ja, ich weiß das schon. Aber weiß das auch Rina? Sie hat doch selbst gesagt, dass diese Familie ganz groß im Verdrängen ist. Also gib ihr eine passable Erklärung. Irgendetwas mit dem sie umgehen kann. Etwas das sie nicht in ihrer rosa Puppenstube, die sie sich mit den Zwillingen aufgebaut hat, stört.“ Das klingt jetzt böser, als ich es gemeint habe. Denn im Grunde mag ich meine Stiefmutter. Sie tut was sie kann und versucht stets Verständnis für uns aufzubringen. Sie ist nicht die böse Stiefmutter aus Grimms-Märchen.
Über Ricos Gesicht gleitet ein feines Lächeln. „Danke, Yanni. Du hast recht. Ich weiß auch schon genau, was ich ihr sagen werde.“
Ricardo

Am Samstagmorgen erwische ich meine Stiefmutter allein. Sie arbeitet in unserem kleinen Garten. Ich schnappe mir die schweren Säcke mit Blumenerde und trage sie an die Stellen, wo sie gebraucht werden. Vati ist mit den Zwillingen unterwegs. Er hat bei E-Bay zwei gebrauchte Fahrräder für die Mädchen ersteigert und holt sie mit ihnen ab. Yannik hat diese Woche Zimmerdienst, das heißt er ist die nächste Stunde noch gut mit dem Aufräumen unseres Zimmers und des Bades beschäftigt. Von Anfang an waren Yannik und ich für die Sauberkeit unseres Zimmers allein zuständig, während die anderen Räume auf die anderen Familienmitglieder aufgeteilt werden. Das muss so sein bei einer großen Familie wie unserer. Rina käme einfach nicht nach mit Hausarbeit, Kinder und ihrem Beruf. Sobald ich im Garten fertig bin, werde ich das Wohn- und Esszimmer aufräumen. Die Küche machen Rina und ich gemeinsam, hat sie mir versprochen, als ich ihr angeboten habe ihr im Garten zu helfen.
Die Regelung, dass jeder sein Zimmer selbst aufräumt kommt meinem Bruder und mir sehr entgegen. Auf diese Weise bleiben unsere Geheimnisse gewahrt. Ich kann mir sicher sein, dass so schnell, keiner meine alkoholischen Getränke findet. Denn auf Yannik kann ich mich in dieser Beziehung verlassen. Ich weiß, dass er mich nie verraten würde.

„Können wir reden?“, frage ich Rina, als diese mit skeptischen Blick die vielen Blumen betrachtet, die wir vor einigen Tagen aus dem Baumarkt mit nach Hause gebracht haben. Rina sieht mich mit ängstlichen Blicken an und ich frage mich, ob sie tatsächlich so bereit für meine Beichte ist, wie sie mir das gestern weismachen wollte. Doch dann nickt sie entschlossen, legt ihren Rechen beiseite, nimmt mich fürsorglich am Arm und führt mich zu der kleinen gemauerten Treppe, die hinunter in unseren Garten führt.
„Setz‘ dich Rico. Ich hole uns etwas zu trinken.“ Während ich mich auf den Stufen niederlasse und mein Gesicht in die Frühlingssonne halte, denke ich daran, wie oft meine Mutter mich so liebevoll umarmt hat und ich frage mich, ob Mama weiß, dass ich gerade dabei bin mein Leben so richtig zu verpfuschen. Ich schlucke den Kloß, der sich in meinem Hals bildet, herunter. Rina kommt zurück und drückt mir ein Glas Wasser in die Hand. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Rina hat eine sarkastische Ader, die sie gut zu verbergen weiß. Aber hin und wieder kommt diese durch und dann rette sich wer kann.
„Haben wir keinen Saft oder Coke mehr da?“, frage ich.
„Schon. Aber da kann ich nicht erkennen, was du sonst noch hineingeschüttet hast.“
Ich räuspere mich verlegen und werfe ihr einen bösen Blick zu, den sie genauso böse erwidert. Damit sind unsere Fronten klar abgesteckt. Es ist wohl an der Zeit, die weiße Flagge zu hissen. „Es tut mir leid Rina, wenn du glaubst, dass ich so etwas tue“, beginne ich verlegen. Rinas erwidert meinen Blick schuldbewusst. Sie ahnt nicht, wie nahe sie der Sache gekommen ist. Auch wenn ich noch nie unsere Säfte oder das Cola mit Alk gestreckt habe, aber die Idee an sich, finde ich gut. Sollte ich mir merken für die Zukunft. Andererseits, wenn die Mädchen die Flaschen finden und daraus trinken, das würde ich mir nie verzeihen. Ich schiebe diese Gedanken zur Seite, denn zuerst einmal muss es mir gelingen Rina auf meine Seite zu bringen. Ich kann nicht riskieren, dass sie Vati von ihren Befürchtungen erzählt.
„Das würde ich nie tun,“ schwöre ich und sehe ihr fest in die Augen. Dabei höre ich eine gemeine Stimme in meinem Kopf, die mich fragt: „Würdest du wirklich nicht?“ Ich versuche die Stimme zu ignorieren und fahre fort: „Schon wegen der Mädchen nicht. Ich würde nie zulassen, dass den beiden etwas passiert, schon gar nicht durch meine Schuld. Ich liebe sie.“ Das ist zweifellos die Wahrheit. Ich wollte keinen Tag länger leben, wenn meinen Schwestern durch meine Schuld ein Unglück geschehe. Sie sind so jung und unschuldig, haben keine Ahnung davon, wie schlecht die Welt sein kann. Soweit es in meiner Macht steht, werde ich alles dafür tun, dass dies auch so bleibt.
„Ich schwöre dir, Rina. Ich habe mich höchstens zwei- dreimal betrunken. Das wird nicht mehr vorkommen. Ehrlich.“ Ich wage es nicht auf meine Nasenspitze zu sehen, ob diese unverhältnismäßig anfängt zu wachsen. Doch dann fällt mir ein, dass dies nur ein dummes Märchen ist, das meine Mutter mir als kleiner Bengel erzählte. Deshalb wundert es mich nicht weiter, dass meine Nasenspitze bleibt wo sie ist und meine Stiefmutter mein Märchen ohne jeden Zweifel als wahr annimmt.
„Warum hast du es denn getan Rico?“, fragt sie mich mit leiser Stimme und ich erzähle ihr die Geschichte, die ich mir in den letzten Stunden ausgedacht und ausgeschmückt habe. Ich erzähle ihr von meiner ersten großen Liebe, die mich verlassen habe, weil ein Junge, der bereits in die Oberstufe geht, sie mit seinem Sportcoupe beeindruckte.
„Er hat viel mehr Geld als ich. Der Kerl ist so ein reiches Muttersöhnchen, der alles bekommt, was er sich wünscht. Ich kann da einfach nicht mithalten,“ fantasiere ich.
Rina legt den Arm um mich und zieht mich liebevoll an sich. Sie ist wirklich eine tolle Mutter, das muss man ihr lassen. Nicht so toll, wie meine Mutter, aber immerhin. Sie verdient nicht, dass ich sie dermaßen verkohle. Aber ich bin mir sicher, dass sie genau wie meine Mutter, auch nicht mit der Wahrheit umgehen könnte.
„Rico, das tut mir wirklich leid für dich.“ Sie tätschelt meinen Arm und küsst mich auf die Wange. Ich rücke von ihr ab. Das geht zu weit. Die letzte Frau, die mich auf die Wange küsste, war meine Mutter und danach ging meine Welt unter. Rina spürt meine Abwehr und entschuldigt sich sofort: „Es tut mir leid, Rico. Ich wollte dir nicht zu nahetreten.“ Sie nimmt mein Kinn in ihre Hände und zwingt mich sie anzusehen: „Dieses Mädchen ist deiner nicht wert, Rico. Wenn sie dich für ein Sportcoupe und ein paar Geschenke in den Wind schießt, dann sei froh, dass sie weg ist. Sie hat dich nicht verdient. Du verdienst jemand, der dich genauso mag, wie du bist.“
„Wie bin ich denn?“, frage ich sie, weil ich es selbst nicht genau weiß und es zu gerne von ihr wissen möchte. Doch kaum ist mir die Frage entschlüpft, da hätte ich sie am liebsten wieder zurück genommen. „Sag es nicht! Sag es bloß nicht!“, flehe ich innerlich.
Doch Rina hört mein stilles Flehen nicht und antwortet mir ohne nachzudenken: „Du bist ein wunderbarer, lieber, junger Mann. Du bist der tapferste und fürsorglichste Mensch, den ich kenne. Du sorgst dich um Yannik und Ariela und Lana. Ich weiß, dass ich mich auf die verlassen kann. Du bist talentiert und in meinen Augen ein großer Künstler, mit deinem Zeichentalent und diesem Talent für Musik. Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal einen Rockstar in meiner Familie habe. Und wenn dieses Mädchen das nicht sieht, dann glaub mir, sie ist deiner nicht wert.“
Jetzt habe ich jede Menge zu verdauen. Ich hätte nie geglaubt, dass Rina so von mir denkt. Sie schätzt mich völlig falsch ein. Ich bin ein Niemand! Ein Nichts! Und ganz bestimmt bin ich es nicht wert, dass mich jemand liebt. Ich verdiene weder ihre Worte, noch die Liebe meiner Schwestern oder meines Vaters. Tränen treten in meine Augen und ich versuche vergeblich diese weg zu blinzeln. Ein Schluchzen dringt aus meiner Kehle und ehe ich mich versehe, falle ich meiner Stiefmutter um den Hals und klammere mich an ihr fest, wie ein kleines Baby. Sie nimmt mich in die Arme und tröstet mich bis ich mich einigermaßen beruhigt habe. Noch immer an ihrem Hals hängend verspreche ich Rina hoch und heilig, dass ich nicht wieder trinken werde und gebe mir selbst das Versprechen, dass ich sie zumindest in dieser Hinsicht nicht belüge. Rina hält mich auch weiterhin in ihren Armen und verspricht mir, dass sie Vati nichts von unserem Gespräch erzählen wird. Ich bedanke mich bei ihr und könnte jetzt frohgemut meiner Wege ziehen. Doch mein schlechtes Gewissen über den Bären, den ich meiner Stiefmutter aufgetischt habe, lässt mich bei der Gartenarbeit ausharren. Gemeinsam setzen wir die Blumen in die Beete. Später lasse ich mir von ihr zeigen, wie die Sträucher um unser Grundstück geschnitten werden und helfe ihr das Zeug zum Wertstoffhof zu karren.





Rina

Es ist nicht einfach die Kinder einer anderen Frau aufzuziehen. Ständig habe ich das Gefühl, dass ich etwas falsch mache und mir die andere Frau zu Recht vorwerfen kann, dass ich ihre Söhne vernachlässige oder falsch behandele. Aber ich weiß auch, dass das nicht geschehen wird. Ricos und Yanniks Mutter ist tot. Der einzige, der sich beschweren könnte, dass ich seine Kinder falsch behandele ist Henrik, mein Mann. Aber er ist oft nicht da und bekommt von dem was bei uns zu Hause los ist, so gut wie nichts mit. Ich beschwere mich nicht. Als ich Henrik heiratete, war mir klar, dass ich mit vielen Überstunden, mit Wochenend- und Nachtschichten klar kommen muss und auch dass der Haushalt und die Kindererziehung größten Teils an mir hängen bleiben werden. Henrik hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass seine erste Ehe aus genau diesen Gründen gescheitert ist.
Mein Mann hat Elenora im Spanienurlaub kennen gelernt und später geheiratet. Wahrscheinlich hat sie sich nicht vorstellen können, wie es ist, mit einem Polizisten verheiratet zu sein. Ihre gesamte Familie blieb in Spanien zurück und sie war hier fremd und allein. Der Mann ständig unterwegs. Als Rico zur Welt kam und knapp fünfzehn Monate später Yannik war sie auf sich allein gestellt mit den beiden. Henriks Mutter war zu der Zeit schon gestorben und sein Vater lebte mit seiner neuen Lebensgefährtin auf Mallorca. Henrik selbst war beruflich völlig ausgelastet. Irgendwann kam Elenora darauf, dass Henriks Partner eine Frau war und rastete völlig aus. Sie stritten sich nur noch und Henrik entschloss sich zur Trennung.

Als ich meinen Mann kennenlernte, da war er schon seit fast zwei Jahren von Elenora getrennt. Er erzählte mir, dass er zwei Söhne aus erster Ehe habe, doch der Kontakt zu diesen abgebrochen sei, weil deren Mutter das nicht wünsche. Ich bin mir nicht sicher, ob Henrik wirklich alles getan hat, um nicht doch weiter Kontakt zu seinen Kindern zu halten. Ich meine, wenn es um mich ginge und Ariela und Lana - ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um meinen Kindern nahe zu sein, da könnte Henrik sich noch so sehr dagegen wehren. Ich gäbe nicht auf. Aber vielleicht sind Männer anders. Vielleicht ist es aber auch so, wie Henrik sagt, dass sein Beruf ihm keine Zeit für solche Grabenkriege lässt. Oder er ist einfach nur bequem? Ich weiß es nicht. Jedenfalls waren Rico und Yannik jahrelang kein Thema bei uns. Ich respektierte Henriks Entscheidung. Unsere Mädchen wurden geboren und ihre Erziehung liegt seitdem in meiner Hand. Einerseits verstehe ich das auch. Henrik hat kaum Zeit für Kindererziehung in seinem Job. Andererseits wünsche ich mir schon etwas mehr Hilfe. Aber ich wusste ja auf was ich mich eingelassen habe und wir haben die Entscheidung für unsere Mädchen auch nicht dem Zufall überlassen, sondern lange und ausführlich darüber gesprochen. Deswegen beschwere ich mich auch nicht.

Doch dann, von einem Tag auf den anderen, brachte er seine Söhne in unser Haus. Ohne vorher auch nur mit mir zu sprechen. Ich sehe es ein, er hatte kaum eine andere Chance. Genauso wenig wie die beiden Jungen. Sie standen von einem Tag auf den anderen ohne Familie da, hatten niemanden wo sie hätten hingehen können. So gesehen muss man es Henrik hoch anrechnen, dass er sofort und ohne Wenn und Aber sich für seine Söhne entschieden hat. Es sind schließlich seine Kinder. Aber er hätte doch zumindest mich kurz fragen können.

Ich mag die beiden Jungs. Aber ich weiß auch, dass sie beide tief traumatisiert sind. Dass, das was ihnen passierte und die Art und Weise wie ihre Mutter umgekommen ist, das Schlimmste ist, was Kindern geschehen kann. Ich weiß auch, dass ich nicht dazu befähigt bin ihnen zu helfen. Egal, was ich auch versuche. Ich bin nicht ihre Mutter. Liebe kann man nicht erzwingen. Sie respektieren mich und mögen mich gerne, da bin ich mir sicher. Sie haben ihren Vater gerne und respektieren auch diesen. Aber ich weiß sicher, dass sie es Henrik nicht vergessen haben, dass er sich nie wieder bei ihnen gemeldet hat. Auch wenn dieser das nicht wahrhaben will. Es gibt so Einiges das Henrik nicht wahrhaben will.

Als ich zum ersten Mal das Gespräch darauf brachte, dass Rico und Yannik professionelle Hilfe benötigen, wehrte sich Henrik mit Händen und Füßen dagegen. Ich weiß, dass er ein gespaltenes Verhältnis zu Psychiater hat. Mehr als einmal hat ein solcher sich ihm bei seiner Arbeit in den Weg gestellt. Seine Arbeit praktisch zunichte gemacht. Das verstehe ich gut. Aber: Ich bin überfordert mit dem Trauma seiner Kinder und ich glaube, dass wir einen großen Fehler machen, wenn wir die Angelegenheit einfach unter den Tisch kehren. Gerade Henrik mit seinem Background als Polizist sollte wissen, dass manche Erlebnisse nicht allein verarbeitet werden können. Er sollte wissen, dass es nicht nur schwarz und weiß im Leben gibt. Doch mein Mann ist anderer Meinung. Er glaubt fest daran, dass ausgerechnet wir das alleine schaffen. Eine liebende Familie sei besser als jede Sitzung bei einem Seelenpfuscher. Die Jungen würden sich melden, wenn es ihnen nicht gut ginge. Dieses Versprechen habe er sich von den beiden geben lassen. Ein Versprechen von zwei völlig verstörten Kinder, deren Welt von einer Sekunde zur nächsten in Scherben lag. Die bei fremden Menschen unterkamen, von denen der eine zwar der Vater ist, sich jahrelang aber nicht um sie kümmerte und die andere eine fremde Frau, die – so wie die beiden das sehen müssen – ihre Familie zerstörte. Eine Frau, die plötzlich die Aufgaben als deren Mutter übernehmen sollte. Dem bin ich nicht gewachsen. Ich tue mein Bestes. Aber ich habe noch zwei Kinder. Meine Kinder, um die ich mich kümmern muss. Ich habe ein Haus, einen Beruf. Was soll ich denn noch tun?
Henrik vergräbt sich in seine Arbeit. Für ihn ist die Sache erledigt, weil die Jungen ihm nie gesagt haben, dass es ihnen nicht gut geht. Sie leben bei uns. Sie akzeptieren uns. Sie lieben ihre beiden Schwestern und diese sind völlig verrückt nach ihren großen Brüdern. Sie sind beide gute Schüler. Yannik ist der Sportler, der jedem in seiner Schule davon läuft und Rico ist unser Künstler. Beide sind talentierte Musiker. Ich genieße jeden Abend, an dem sie uns etwas auf ihren Gitarren vorspielen oder jedes Schulfest, wenn das Schulorchester spielt und meine Stiefsöhne die Stars des Abends sind. Neuerdings haben sie eine kleine Band, gesponsert von ihrer Musiklehrerin. Sie organisiert kleine Auftritte bei Schülerevents, Geburtstagspartys und Festen in der Umgebung. Wir können stolz auf die beiden Jungen sein.

Aber ich schließe trotzdem nicht die Augen davor, dass sie ihre Verletzungen vor uns allen verbergen. Trotz meines Gesprächs mit Rico im Garten bin ich mir sicher, dass das nicht das Ende der Fahnenstange war. Ich glaube auch nicht, dass er sich nur zwei- dreimal betrunken hat. Ich denke, dass da mehr dahinter steckt. Genauso wie mir Yanniks exzessives Training nicht geheuer ist und die vielen Verletzungen, die er davon trägt und niemanden zeigt. Ich weiß genau, dass wir einen großen Verschleiß an Desinfektionsmittel und Pflaster haben. Mehr als üblich. Ich halte meine Augen offen, aber die beiden sind schlau. Sie lassen sich nicht so leicht in die Karten sehen. Und bevor ich mit Henrik rede, möchte ich etwas Konkretes in der Hand haben, damit er sich nicht wieder herauswinden kann.

Ich beobachte meine Töchter und ihre Brüder. Henrik legt den Arm um mich und strahlt mich an. So liebt er das. Er hat seine Familie zusammen. Die Jungen helfen ihren Schwestern mit den neuen Rädern, während wir gemütlich auf der Terrasse sitzen und zusehen, wie die Jungs die Räder aufpumpen und die Mädchen von einem Fuß auf den anderen treten, bis sie endlich aufsteigen und fahren dürfen. Rico holt sein Rad und begleitet sie bei ihrem ersten Trip die Straße auf und ab, während Yannik ihnen zu Fuß folgt. Training! Und das obwohl er heute schon zwei Stunden gerannt ist und völlig fertig nach Hause kam.

Am Abend sitzen wir alle auf der Terrasse und genießen den ersten warmen Abend seit langem. Henrik hat zwei Decken geholt und die Mädchen und ich kuscheln uns an ihn und genießen einfach, dass er da ist. Rico und Yannik haben ihre Gitarren geholt und spielen uns die neuesten Songs vor, die sie in der Musikschule gelernt haben. Je länger sie spielen umso härter rocken sie. Ricos lange Haare fliegen von einer Seite auf die andere und sie sind beide völlig in ihrer Musik versunken. Wir klatschen wie verrückt als sie ihr Lied beenden und ich denke mir, dass alles was die beiden tun, exzessiv ist und so, als würden sie es das letzte Mal tun. Sie sind beide verschwitzt und völlig außer Atem. Ricos Stimme ist heiser und jeder trinkt eine Flasche Wasser aus, bevor er wieder fähig ist mit uns zu reden.
„Das war super, Jungs!“ Henriks Augen strahlen vor Stolz über seine talentierten Söhne und diese lächeln ihn glücklich an. Doch als ihr Vater sie umarmen will, weichen sie ihm aus, wie immer. Henrik lächelt schmerzlich, doch er lässt ihnen ihren Willen. Nie würde er seine Jungs anfassen, wenn diese ihm eindeutig zeigen, dass sie das nicht wollen. Ich seufze. Er könnte so ein guter Vater sein, wenn er sich nur mehr in unser Familienleben einbringen würde. Doch das wird wohl nicht geschehen. Er hat es mir vor unserer Hochzeit gesagt, dass er das aufgrund seines Berufes nicht tun kann. Doch ich sehe, dass es ihn schmerzt, wenn seine Söhne ihn auf Abstand halten.

Wir räumen die Terrasse auf und gehen nach drinnen. Es wird langsam kalt und für die Zwillinge wird es Zeit ins Bett zu kommen. Sie sind schon halb eingeschlafen. Meine Stiefsöhne nehmen jeweils eine ihrer Schwestern auf den Arm, tragen die Mädchen in ihr Schlafzimmer und fordern sie liebevoll auf, ihre Pyjamas anzuziehen und ihre Zähne zu putzen. Beide versprechen wieder zu kommen um ihnen noch ein Gute-Nacht-Lied zu singen.
Henrik blickt stolz auf seine Kinder und ruft ihnen nach, dass er ebenfalls zu ihnen stoßen wird um den Mädchen Gute Nacht zu sagen und dann noch etwas mit seinen Söhnen abzuhängen. Doch er wird erneut enttäuscht, denn die Jungs erklären ihm ebenfalls müde zu sein.
Ich lege meine Hand auf Henriks Arm und flüstere ihm leise zu: „Nicht böse sein. Die Jungs haben heute hart gearbeitet. Rico hat mir den ganzen Morgen im Garten geholfen, während Yannik auch noch unsere Arbeit in der Wohnung übernommen hat, damit wir fertig werden. Dann haben sie mir geholfen die Gartenmöbel aus dem Keller zu holen, sauber zu machen und aufzustellen. Nicht zu vergessen, dass Yanni noch stundenlang gelaufen ist. Du solltest wirklich mal mit ihm reden. Das kann nicht gesund sein, dieses verbissene Trainieren. Der Junge hat keine ruhige Minute. Ständig rennt er durch die Gegend. Und wenn er zurück kommt, ist er fix und fertig und kann kaum noch atmen.“
Henrik grinst mich an: „Der Junge ist eben ehrgeizig. Du wirst sehen irgendwann einmal haben wir einen Olympiasieger in unserer Familie. Aber keine Sorge ich schnappe mir meinen Sohn und rede mit ihm. Gleich morgen früh.“
Doch um vier Uhr in der Frühe kommt ein Anruf seines Reviers, dass ein Kollege ausgefallen ist und er einspringen muss. „Warte nicht auf mich. Keine Ahnung, wenn ich wieder nach Hause komme,“ sagt er, zieht seine Uniform an und verschwindet.

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