Birgit Loos

Leseprobe Elias – Wenn Freiheit nicht genügt

Meine Zähne klappern vor Kälte. Gänsehaut überzieht meine Arme, meine Beine. Tränen stehen in meinen Augen. Wütend wische ich diese weg. Ich will nicht weinen. Geflenne hilft mir nicht weiter. Stattdessen klammere ich mich an meiner Wut fest. Wut auf mich, weil ich schon wieder auf die Lügen meines großen Bruders hereingefallen bin. Mittlerweile müsste ich wissen, wie Nathan tickt. Warum ich ihm jedes Mal erneut auf den Leim gehe, frage ich mich vergeblich.
Ich stampfe mit den Füßen auf. Davon wird mir nicht wärmer. Im Gegenteil. Der eiskalte Kellerboden dringt durch meine nackten Sohlen. Bringt die Kälte bis hinauf in mein Gehirn. Erneut wische ich mir über die Wangen. Blödes Geheule. Das ist genau das, was Nathan beabsichtigte. Er will mir zeigen, wie erbärmlich ich bin. Der kleine Bruder. Der Feigling. Das Weichei, das wegen jeder Kleinigkeit die Tränendrüsen anstellt. Er will mir beweisen, wie tough er ist. Im Gegensatz zu mir. Nathan macht mir damit wieder einmal klar, was für ein nichtsnutziger, jämmerlicher Pisser ich bin. Ich schlage die Arme um mich, versuche mir selbst etwas Wärme zu geben. Vergeblich. Ich bin hier etwa fünf Meter unter der Erde, im tiefsten Weinkeller unseres Gutes. Zwecklos um Hilfe zu rufen. Niemand hört mich hier. Kein Mensch rechnet damit, ich wäre im eisigen Gewölbekeller, ohne Kleider, einzig mit meinen Boxershorts bekleidet. Wenn ich so an mir heruntersehe, bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt gefunden werden möchte. Weder von meinen Eltern, erst recht nicht von unseren Arbeitern. Erneut drängt sich mir die Frage auf, weshalb ich Nathan vertraut habe. Schon wieder. Es war seine Idee. Die Sache mit der Mutprobe.
Mein Bruder ist fünf Jahre älter als ich. Er ist der Superstar in der Familie. Einer, dem alles zufällt. Egal, ob im Sport, in der Schule. Überall, wo ich mich anstrengen, das Letzte aus mir herausholen muss, fliegt ihm der Erfolg zu. Meine Mutter sagt mir, ich dürfe mir das nicht zu Herzen nehmen. Ich bin zu früh geboren, habe einige Wochen im Brutkasten verbracht, weshalb ich etwas mehr Zeit benötige, als andere im gleichen Alter. Ich bin eben ein Frühchen. Diese Erklärung hilft mir nicht weiter. Nathan weiß das. Er ruft mich seitdem hämisch „Frühchen!“ Was der Grund dafür ist, ihm jedes Mal wieder auf den Leim zu gehen. Eines Tages beweise ich es ihm, ich bin weitaus besser als er. Heute ist nicht dieser Tag.
Nathan stachelt mich mit seinen bescheuerten Ideen an, die letzten Endes nach hinten losgehen. Die Bestrafung erhalte ich. Mein Bruder schafft es jedes Mal, sich heraus zu winden, während ich als Trottel dastehe. So wie heute. Ich bin der Idiot. Nathan die lupenreine Unschuld. Wieso habe ich mich auf diesen Quatsch eingelassen? Im Grunde wusste ich schon vorher, wie das enden wird. Es ist jedes Mal das Gleiche. Nathan nennt mich einen Feigling, ein Muttersöhnchen. Ich versuche, ihm das Gegenteil zu beweisen. Kurz darauf stecke ich in der Klemme.
Mittlerweile bin ich bis auf die Knochen durchgefroren. Die Kälte dringt in jede Zelle meines Körpers. Zähneklappernd stehe ich auf, gehe die Treppen hinauf. Oben angekommen hämmere ich mit meinen Fäusten an die Tür. Nichts! Was habe ich erwartet? Niemand ist in dieser Jahreszeit im eiskalten Keller, um zu arbeiten. Es ist Wochen her, seit der Wein in die Fässer gefüllt wurde. Bis man ihn, nach einer gewissen Ruhezeit, in Flaschen umfüllt, bin ich ein Eiszapfen. Es sei denn, Nathan hat ein Einsehen und befreit mich vorher. Er versprach nach spätestens einer Stunde mich hier heraus zu lassen. Dann wäre der Beweis erbracht, dass Wikingerblut in meinen Adern fließt. Alle Wikinger müssten die Mutprobe bestehen, bevor sie auf Raubfahrt gehen dürften, sagte mir mein Bruder. Ihm zu folge, verbringen die Nordmänner mehr als vier Stunden in einer Eishöhle. Angeblich hat er diese Mutprobe im Alter von zehn Jahren abgelegt. Ich bin zwölf. Um ihm sein höhnisches Grinsen aus zu treiben, erklärte ich mich bereit, es ihm nachzutun. Das war ein Fehler. Ich bin weitaus länger hier unten in diesem eisigen Keller. Meinen Mut habe ich bewiesen. Nathan, andererseits, hält sich nicht an unsere Vereinbarung.
„Verdammte Hühnerkacke,“ fluche ich. Vergeblich rüttele ich an der Tür. Tränen laufen mir ungehemmt über die Wangen. Ich will hier raus. Mir ist kalt. „Nathan!“, schreie ich lauthals. „Mach die Tür auf! Ich habe genug. Du hast gewonnen! Nathan!!!“ Ich lausche. Nichts! Todesstille! Ich wische mir mit dem Arm den Rotz aus dem Gesicht. Meine Tränen scheinen mittlerweile an den Wimpern festgefroren zu sein. Frustriert lasse ich mich auf den Boden sinken. Ich habe keine Kraft mehr. Wo bleibt Nathan? Von allein sinkt mein Kopf auf meine Knie. Schlafen. Langsam dämmere ich weg. Ich bin so müde!

Ich wache auf, sehe verwirrt um mich. Wo bin ich? Auf keinen Fall zu Hause in meinem Zimmer. Mama und Papa kommen in mein Blickfeld. Erleichtert atme ich auf. Egal, wo ich bin: Meine Eltern sind hier. Gleich fühle ich mich besser. Warm ist es hier. Mama spricht mit einer Frau im weißen Kittel. Mir wird klar, ich bin im Krankenhaus. Wieder einmal. Angestrengt versuche ich, zu verstehen, was Mama mit dieser Frau redet. Vergeblich. Ich höre nichts. Kein Wort! Kein anderes Geräusch. In diesem Zimmer herrscht absolute Stille. Papa bemerkt, meine bangen Blicke, die durch den Raum schweifen. Er kommt zu mir. Seine Lippen bewegen sich. Sagt er etwas zu mir? Ich höre ihn nicht. Panik macht sich bei mir breit. Ich sehe, sie reden mit mir. Warum höre ich sie nicht? Nicht ein Wort dringt zu mir durch. Panisch, an allen Gliedern zitternd, schaue ich von meinen Eltern zu dieser Frau. Eine Ärztin? Sie spricht mich direkt an. Verzweifelt strenge ich mich an, ihre Worte zu verstehen. Nichts! Stille! Ich schreie. Zumindest glaube ich zu schreien. Ich reiße den Mund weit auf, brülle. Nichts! Kein Ton dringt in mein Gehirn. Todesstille. Ich umklammere die Hand meines Vaters. Papa, redet auf mich ein, versucht vergeblich beruhigend auf mich einzuwirken. Ich reagiere nicht darauf, denn ich verstehe ihn nicht. Ich versuche, ein weiteres Mal meine Stimme zu hören: „Mama! Papa!“, schreie ich aus vollem Hals. Kein Ton. Stille. Was ist hier los? Was ist passiert? Die Kälte, die ich überwunden glaubte, kriecht erneut in meinen Körper. Ich zittere wie Espenlaub. Die Ärztin tätschelt tröstend meinen Arm, gibt mir eine Spritze. Bis diese ihre Wirkung zeigt, verkrieche ich mich im Arm meines Vaters. Einige Zeit später drückt mir die Ärztin einen Zettel in die Hand. Darauf steht:
„Elias, du hattest eine Lungenentzündung sowie eine Entzündung in beiden Ohren. Das ist der Grund, weshalb du zur Zeit nichts hörst. Mach dir keine Sorgen, das bekommen wir wieder hin.“
Ich nicke erleichtert, vertraue ihr. Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage. Die Panik nimmt mir sonst die Luft zum Atmen.
Sie bekommen es nicht wieder hin
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