Birgit Loos

Was wäre, wenn


„...mein Leben völlig anders verlaufen wäre?“, fragte Luise ihre Freundin Sabine, bei ihrem monatlichen Treffen im Café Willa.
„Wie meinst du das? Anders?“
Sie seufzte enttäuscht auf, als sie die Verständnislosigkeit in Sabines Augen erkannte. Es wäre besser, wenn sie ihre Gedanken für sich behalten hätte. Wieder einmal war sie zu impulsiv gewesen und sorglos damit herausgesprudelt, obwohl sie wusste, dass Sabine sich einzig und allein auf Fakten verließ. Träumereien über ein neues Leben waren ihr fremd. „Es ist, wie es ist,“ pflegte sie zu sagen. „Da helfen keine Pillen.“
Sabines fragende Blicke ließen Luise stammeln: „Nun ja. Anders eben. Du weißt schon. Wenn ich statt meiner Ausbildung zur Industriekauffrau, meinen Kindheitstraum gefolgt wäre. Tierärztin wollte ich werden. Oder lieber Schriftstellerin.“
Sabine stieß ein genervtes Prusten aus.
„Du kannst froh, dass du das nicht getan hast.“
„Was soll das jetzt wieder heißen?“
Luise war verärgert, dass ihre Freundin ihre Träume offenbar als völlig verrückt abtat.
„Ich bitte dich, Luise. Um Tierärztin zu werden, hättest du das Abitur machen müssen. Aber wer hat nach Abschluss der Mittleren Reife behauptet, ihn bringen keine zehn Pferde mehr zurück in ein Klassenzimmer?“
Luises schuldbewussten Blick kommentierte Sabine mit einem spöttischen: „Siehst du.“ Bevor sie etwas zu ihrer Verteidigung erwidern konnte, fuhr ihre Freundin mitleidlos fort: „Was jetzt die Schriftstellerei betrifft. Klar, du hast fabelhafte Aufsätze geschrieben. Aber dein Talent reichte nie, um dir damit dein Leben finanzieren zu können. Da brauchte es schon ein bisschen mehr.“
„Was denn zum Beispiel?“, knurrte Luise verletzt.
„Woher soll ich das wissen. Wenn du dieses gewisse Etwas hättest, wären deine Bücher Bestseller. Unsere Gespräche würden sich nicht um deine finanziellen Probleme drehen, sondern um deine Lesereisen.“
Luise verstummte. Gegen diese Argumentation kam sie mit ihren Träumerein nicht an. Es ließ sich nicht verleugnen, dass ihr vor kurzem verstorbener Ehemann, ihr einen Haufen Schulden hinterlassen hatte. Diese durfte sie jetzt abstottern, damit sie ihr Haus nicht verlor.
Trotzdem ließ sich der Gedanke, was wäre, wenn, nicht ausschalten. Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Eine Angewohnheit, die Sabine hasste.
„Ich frage mich, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich Rolf damals nicht geheiratet. Er hat mich quasi mit seinem Antrag überrumpelt. Im Grunde wäre ich lieber mit Jonny und seiner Band über die Lande gezogen. Ich war eine verdammt gute Leadsängerin. Jawohl, das war ich,“ sagte sie mit fester Stimme, bevor ihre Freundin ihr diesen Traum ebenfalls zunichtemachte. Dann fuhr sie mit ihren Gedanken fort:
„Aber da waren meine Eltern, die hätte der Schlag getroffen. Im Großen und Ganzen liebte ich Rolf ja. Aber es war nicht die herzzerreißende Liebe. Die stelle ich mir anders vor.“
„Die große Liebe ist eine Erfindung von Kitsch-Schreiberlinge, wie du einer bist und Hollywood,“ grummelte Sabine. „Wie heißt es so schön: Ehen werden im Himmel geschlossen, aber auf Erden geführt. Ich kenne niemanden, den die Ehe letztendlich glücklich gemacht hat.“

Luise trank zu Hause einen Baileys. Den brauchte sie nach diesem Treffen. Sabine war ihre Freundin, auf die sie sich voll und ganz verlassen konnte. Egal was geschehen war in den letzten Jahren, sie stand sofort Gewehr bei Fuß, wenn Luise ihre Hilfe benötigte. Sabine war ein Geschenk der Götter. Jemand, der mit beide Füßen fest mit der Erde verbunden war. Gesegnet, mit einem rationalen Verstand. Taktisches und logisches Vorgehen waren Teil ihrer DNA. Doch hin und wieder hätte es Luise begrüßt, wenn Sabine einmal auf ihre „Spinnereien“, wie diese sie nannte, einging. Seit nunmehr dreißig Jahren tat sie alles, was ihre Freundin ihr vorschlug. Dank ihr war sie mit ihrem Leben zurechtgekommen. Luise war fleißig, sparsam, hörte auf Sabines rationale Vorschläge. Aber sie war nicht glücklich. Sie nippte an ihrem Baileys und seufzte laut. Während sie sich in ihren Lieblingssessel kuschelte, ließ sie ihren Spinnereien freien Lauf.
Was wäre, wenn es ein Parallel-Universum gab, wo eine Luise lebte, die all das erleben durfte, was ihr in dieser Welt verwehrt worden war? Ein zweites Selbst, das bereit war, mit ihr die Leben zu tauschen?
Luise schloss die Augen und versank in ihrer Traumwelt. Sie sah sich im Alter von zwanzig Jahren, bei Rolfs Heiratsantrag. Diesmal bekam er einen Korb von ihr. Stattdessen fuhr sie mit Jonny und seiner Band durch die Lande. Ließ alles zurück, was sie an ihr bisheriges Leben gebunden hatte. Ihre Eltern, die Schwester, die Freunde. Die Ausbildung in einem weltbekannten Industrieunternehmen. Statt Business Kostüm trug sie ihre langen, geliebten Hippie-Kleider, lebte den Flower-Power-Lifestyle. Sie tat, was sie sich bisher verboten hatte. Trank, rauchte Pott. Ihre Liebes-Eskapaden waren zahlreich und über allen Maßen heiß. Sie tanzte in Woodstock zu den Klängen ihrer Lieblingsmusiker. Erlebte Joan Baez und Jimmy Hendrix live. San Francisco war ihre nächste Station. Sie lebte intensiv, verbot sich jeden Gedanken an eine Zukunft. Heute fand ihr Leben statt.
Als sie älter wurde, geschah etwas Seltsames mit ihr. Zuerst weigerte sie sich, genauer hinzusehen. Doch mit der Zeit erkannte sie, dass sie stillstand. Nichts Neues passierte. Zwar wechselten die Orte, die Landschaften, die Menschen. Aber sie blieb die Gleiche. Innerlich. Äußerlich sah man ihr das Alter an. Die durchgemachten Nächte, der Alkohol, die Drogen, die wechselnden Liebhaber. Sie fragte sich, was der Sinn ihres Lebens war. Letztlich begab sie sich auf die Suche nach einem weisen Mann oder Frau, die ihr die Bedeutung ihres Seins aufzeigen konnten. Erneut stürzte sie sich in Aktivitäten. Sie reiste nach Indien. Dort lebte sie in einem Ashram. Begeistert änderte sie ihren Namen sowie ihre Essgewohnheiten. Vegan wurde ab sofort ihr neues Leitmotto.
Ein Hilferuf ihrer Schwester brachte sie zurück nach Hause. Ihre Eltern waren über die Jahre alt und gebrechlich geworden. Sie benötigten die Hilfe ihrer Töchter. Charlotte konnte die Pflege nicht allein übernehmen. Als alleinerziehende Mutter arbeitete sie Tag und Nacht, um sich und ihre beiden Kinder durchzubringen. Luise wurde aufgefordert, ihr einen Teil der Verantwortung abzunehmen.
Ihr Leben veränderte sich völlig. Sie stand früh auf, bereitete Frühstück und legte Medikamente bereit. Arzttermine, Haus- und Gartenarbeit. Seniorennachmittage, zu denen sie ihre Eltern begleiteten, waren ihr einziger Zugang zur Außenwelt. Sie versuchte, sich mit Yoga abzulenken. Doch das war nicht genug. Freunde hatte sie keine mehr in diesem verträumten kleinen Städtchen, in dem sie aufgewachsen war. Diese waren mittlerweile alle verheiratet, hatten Kinder bekommen. Niemand wollte etwas über Luises Abenteuer in fremden Ländern hören. Deshalb suchte sie nach Ablenkung. Sie las jede Menge. Glücksbücher, Ratgeber für ein erfülltes Leben. Wenn sie es sich leisten konnte, was nicht oft geschah, ging sie zu Vorträgen von Coaches, die ihr erklärten, was sie in der Vergangenheit falsch gemacht hatte und was sie ändern sollte. Obwohl sie versuchte, sich an diese Anweisungen zu halten, änderte sich nichts in ihrem Leben. Sie sehnte sich zurück nach Woodstock, San Francisco oder nach Indien. Dort war sie mit Gleichgesinnten zusammen gewesen. Andererseits hatte sie nirgendwo Freunde gefunden. Diese Menschen waren wie sie. Heimatlose, Verlorene, die nach ihrem Glück suchten und es nicht fanden. Genauso wenig, wie es ihre Eltern und ihre Schwester entdeckt hatten. Keiner war jemals von Herzen glücklich. Warum war das so? Gab es dieses Geschenk der Götter nur in Filmen und Büchern? Sie holte ihre Ratgeber hervor. Erneut auf der Suche nach weisen Menschen, die ihr helfen konnten. Aber niemand befreite sie aus ihrem eintönigen Leben. Vergeblich versuchte sie, sich in Meditationen zu versenken. Es gelang ihr nicht. Ihre Gedanken schweiften ab.
Innerhalb weniger Wochen verstarben ihre Eltern. Jetzt war sie frei. Dies war ein Irrtum, wie ihr schnell klar wurde. Es begann damit, dass ihre Schwester sie aufforderte, sich eine neue Wohnung zu suchen, um das Elternhaus verkaufen zu können. Luise war es recht. Sie benötigte das Geld aus dem Hausverkauf ebenfalls. Sie hatte keine Ausbildung, keine Rücklagen. Nichts. Es war schwer, eine neue Bleibe unter diesen Voraussetzungen zu finden. Sie würde sich einen Job suchen müssen. Ewig wurde die Kohle aus der Erbschaft nicht reichen. Wie ging es dann weiter?
Ihre vernünftige Schwester zeigte ihr Wege auf, wie sie ihr Erbteil anlegen sollte. Wollte sie ihren Lebensabend sorglos und in Frieden verbringen, war es das Beste auf Charlotte zu hören.

Luise fuhr in ihrem Stuhl hoch. Entsetzt blickte sie sich um. Ihre Parallelwelt hatte sich anders entwickelt als gedacht. Auch dort gab es Probleme. Enttäuscht stöhnte sie auf, als ihr klar wurde, dass sie in beiden Welten festsaß. Das Hamsterrad stand nirgendwo still. Alle Glücksratgeber halfen nicht weiter. Was sollte sie tun? Die Antwort frustrierte sie. Sabine hatte recht. Es gab keine andere Chance. Arbeiten, Geld verdienen, Schulden abzahlen. Damit sie im Alter ein schuldenfreies Häuschen besaß. Selbst wenn sie dann so erschöpft war, dass sie ihren Garten und ihre Wohnung nicht mehr genießen konnte.
„Will ich mein Leben überhaupt in diesem Haus verbringen, wo mich alles an meine kaputte Ehe erinnert?“
Die Antwort war ein klares „Nein“!
„Warum tue ich es dann?“
Weil Sabine mir sagte, es wäre das Vernünftigste. Aber stimmte das?
Dieses Haus war ein Alptraum. Reparaturen waren an der Tagesordnung. Die Gartenarbeit fiel ihr jetzt schon schwer und hatte ihr nie Freude bereitet. Der von ihrer Freundin ausgearbeitete Finanzplan, um die Schulden abzutragen, konnte sie gleich im zweiten Jahr nicht einhalten.
Ein verrückter Gedanke kam ihr in den Sinn. Sie setzte sich aufrecht in ihren Stuhl. Diese Reportage, die sie vor ein paar Wochen gesehen hatte. Damals hatte sie geseufzt und sich gedacht: „Das würde ich gerne machen. Aber leider kann ich es nicht tun.“ Auf die Frage: „Warum denn nicht?“, fiel ihr keine befriedigende Antwort ein.

Zwei Jahre später stand Sabine neben Luise an der Gangway, die zu dem riesigen Kreuzfahrtschiff hinaufführte.
„Du bist verrückt, völlig meschugge. Verkaufst dein Haus, deine Möbel. Alles, was du dir in den vielen Jahren angeschafft hast. Und wofür? Um auf einem Kahn zu leben, der jederzeit absaufen kann.“
Luisa lachte laut: „Dies ist das modernste Schiff, das es gibt. Es wird schon nicht untergehen. Im Übrigen habe ich, genau, wie du es mir so oft sagtest, alles durchgerechnet. Schau, ein Platz im Altenheim ist teurer, als meine monatliche Rente ausmacht. Eine Außenkabine auf diesem Luxuskreuzer kostet mich nur einen Teil des Betrages. Ich bekomme zu essen, zu trinken. Alles all inclusive. Ich schippere um den Erdball, sehe Länder, von denen ich ein Leben lang geträumt habe. Ich habe eine erstklassige, ärztliche Betreuung an Bord und das rund um die Uhr. Tagtäglich lerne ich neue, interessante Menschen kennen und werde fürstlich bedient. Ein Mädchen putzt meine Kabine. Es gibt eine Wäscherei auf diesem Kahn. Einer Königin könnte es nicht besser gehen.“
Sabine stieß einen frustrierten Ton aus. „Und was machst du, falls du ernsthaft erkrankst? Wenn du in einem drittklassigen Krankenhaus mitten im Dschungel endest?“
„Keine Sorge, meine Liebe, das wird nicht geschehen. Ich habe eine erstklassige Auslandskrankenversicherung abgeschlossen. Außerdem hat der Verkauf meines Hauses weitaus mehr gebracht, als ich mir erträumt habe. Ich konnte die Schulden abzahlen und habe genug übrigbehalten, um mir den einen oder anderen Landausflug zu gönnen. Dank deiner Hilfe ist das Geld wertbringend angelegt. Jetzt hör auf zu schmollen und freu dich für mich.“

Sabine starrte auf die Ansichtskarte, die ihr Luise von ihrer Weltreise zugesandt hatte. Amüsiert über deren Verrücktheiten las sie die Karte ein weiteres Mal.
„Mein Leben lang habe ich das Glück gesucht und nie gefunden. Heute weiß ich, ich suchte an den falschen Stellen. Das Glück findest du nicht im Urlaub, auf einem Kreuzfahrtschiff. Du findest es nie im Außen, sondern in deinem Inneren. Ich musste erst zur Ruhe kommen und es mir erlauben, ich selbst zu sein.

Statt zu tun, was andere von mir erwarten, tue ich jetzt das, was ich möchte. Ich schreibe zurzeit an einem Buch über meine Erlebnisse, hier auf diesem Schiff. Das Beste daran ist, dass es mich nicht interessiert, ob ich damit berühmt werde oder nicht. Ich tue es, weil es mir Spaß macht und ich es kann.“

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