Birgit Loos

Die Hochzeitszeitung


„Was für eine bescheuerte Idee!“, fluchte Alice. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, bis diese wild in alle Richtungen standen. Cora war nicht mehr bei Sinnen. Seit sie ihren Herzallerliebsten zu ehelichen gedachte, hatte sie einen verrückten Einfall nach dem anderen. Dabei war sie 58 Jahre alt und würde zum zweiten Mal in den unheiligen Stand der Ehe treten. Man sollte meinen, dies wären Gründe genug, diesen Schritt etwas weniger enthusiastisch anzugehen. Gediegener, ihrem Alter entsprechend. Aber nein! Cora wollte eine Traumhochzeit mit allem schnick Schnack, den es bei solchen Feierlichkeiten gab.
Bei ihrer ersten Hochzeit hatte eine Katastrophe die nächste abgelöst. Angefangen bei ihrer Partnerwahl bis hin zur Torte und dem Ort der Feierlichkeit.
Ihr jetziger Verlobter Hardy hingegen war ein Glücksgriff. Er las Cora jeden Wunsch von den Augen ab. Sie wollte eine große Feier, deshalb bekam sie eine solche, mit allem, was dazu gehörte. Brautkleid, Blumen, dreistöckige Hochzeitstorte. Die Eheschließung würde in einer romantischen Kapelle mitten im Wald stattfinden, wohin das Brautpaar mit einem Vierergespann weißer Schimmel, in einer offenen Kutsche hinfahren würde. Nicht zuletzt wünschte sich die Braut eine Hochzeitszeitung.
Alice stöhnte gequält auf. Warum war ihre Wahl für dieses blöde Heftchen ausgerechnet auf sie gefallen?
„Du arbeitest doch bei einer Zeitung. Für dich ist das ein Klacks,“ hatte Cora mit einem hinterlistigen Grinsen zu ihr gesagt.
Alice machte sie darauf aufmerksam, dass sie bloß am Anzeigenschalter saß.
„Genau. Ständig erzählst du mir, dass du den Leuten bei den Texten für ihre Anzeigen hilfst.“
Alice gab es letzten Endes auf. Es war Cora nicht beizubringen, dass das zwei verschiedene Schuhe waren. Sie nahm den Job, wenn auch murrend, an.

Sie hatte es kommen sehen. Seit mehr als zwei Wochen saß sie jetzt vor ihrem Computer und hatte keinerlei Inspiration, wie sie Coras Wunsch erfüllen konnte. Üblicherweise wurden in einer solchen Zeitung die Kinderbilder des Brautpaares vom Baby- bis zum heutigen Alter eingestellt. Aber von Coras Kinderzeiten existierten keine Fotos. Hardy, hingegen weigerte sich, zum ersten Mal, dem Wunsch seiner zukünftigen Frau nachzukommen. Er erklärte, dass seine Bilder aus der Kindheit nicht publik gemacht werden durften. Alice ließ es dabei bewenden. Die Frage was sie stattdessen veröffentlichen sollte, konnte ihr niemand beantworten.
Die Eltern von Braut und Bräutigam waren tot. Geschwister hatten sie beide nicht. Außerdem fand Alice es albern. Schließlich und endlich ging das Hochzeitspaar auf die sechzig zu. Deren Erzeuger, die längst das Zeitliche gesegnet hatten, sollten in dieser Zeitung, wenn überhaupt, nur namentliche Erwähnung finden. Gefrustet kaute sie auf einem Bleistift herum. Eine grässliche Angewohnheit, sobald sie angestrengt nachdachte.
Sie konnte den beruflichen Werdegang des Brautpaares aufzeigen. Doch im Gegensatz zu Hardys Lebenslauf war der von Cora blass. Sie würde neben seinem Abenteuerleben unscheinbar wirken. Dies war das Letzte, was Alice beabsichtigte. Denn ihre Freundin war alles andere als langweilig. Die Krisen in ihrem Leben hatte sie mit Bravour gemeistert. Doch genau an diesen Schlamassel wollte Cora nicht erinnert werden. Auf keinen Fall an ihrem Hochzeitstag. Im Gegensatz dazu hatte der Bräutigam nur die angenehmen Seiten des Lebens kennengelernt. Die Autowerkstatt seines Vaters hatte er vor zwanzig Jahren übernommen. Zuvor war er als Backpacker durch die ganze Welt getrampt. Er war geblieben, wo es ihm gefallen hatte, und weitergezogen, sobald er sich langweilte. Er konnte stundenlang fesselnde Geschichten aus diesen Zeiten erzählen.
Coras Lebenslauf hingegen war eher langweilig zu nennen. Sie war bei den Großeltern aufgewachsen. Ihre Mutter arbeitete, um für sich und ihre Tochter den Lebensunterhalt zu verdienen. Liebe und Fürsorge hatte sie in ihrer Kindheit und Jugend nur wenig erfahren.
Nach der Schule fand sie schnell eine Anstellung in der Universitätsbibliothek in ihrer Heimatstadt. Dort war sie nunmehr seit über dreißig Jahren beschäftigt.
Mit anderen Worten. Cora führte, bevor Hardy wie ein Wirbelsturm in ihr Leben eingefallen war, ein stinklangweiliges Dasein.

„Ich wünsche mir eine Zeitung, die niemand sonst hat,“ klang Coras Forderung in Alices Ohren. Was genau sie sich darunter vorstellte, hatte sie nicht verraten.
„Du machst das schon,“ war sie zuversichtlich gewesen. Im Gegensatz zu ihrer Freundin.

Alice entschloss sich letztlich, Ereignisse zu suchen, die in den Geburtsjahren des Brautpaares passiert waren. Eine halbe Stunde später gab sie erneut auf. So ging das auf keinen Fall. Es hatte den Anschein, als hätte es in den letzten fünfzig Jahren nichts als Katastrophen, Kriege, Mord und Totschlag gegeben. Jedes relevante Datum, die Biografie des Paares betreffend, war eine einzige Aufzählung von Hiobs-Botschaften. Hungersnöte, Flugzeugabstürze, Attentate, Erdbeben, Tsunamis, Amokläufe. Nein, das konnte sie Cora nicht antun. Was sagte ihre Freundin stets: „Mein Großvater ist zwei Tage vor dem 11.9.2001 verstorben. Meine Großmutter vier Wochen vor dem Tsunami 2004. Meine Mutter starb 2011, nur wenige Monate nach dem Reaktorunfall in Fukushima mit etlichen tausend Toten.“
Nein! Cora benötigte keine weiteren Tragödien in ihrem Leben. Ihr Hochzeitsdatum sollte sie einzig und allein mit erfreulichen Ereignissen in Verbindung bringen. Nach all den Jahren war es ihr gelungen, einen Menschen zu finden, der sie von ganzem Herzen liebte. Sie hatte es verdient, glücklich zu sein.
Es mussten doch positive Nachrichten gegeben haben. Fragte sich bloß, wo man diese fand. Letzten Endes suchte sie sich Hilfe bei einer Kollegin. Mira war ein Genie in der Recherche. Alice erklärte ihr das Problem und diese war sofort begeistert von der Herausforderung.
„Welche Jahre oder genaue Daten hast du dir vorgestellt, damit wir das Ganze etwas eingrenzen können?“
Alice überlegte. Zögerlich fing sie an: „Ja, ich dachte an die Geburtstage der beiden. An Ereignisse in ihrem Leben, die ihnen Freude bereitet haben.“
„Die da wären?“
„Na ja. Ich weiß nicht genau. Unser Abiturjahr. Das Jahr, als Hardy seine Abschlussprüfung machte und Coras Ende ihrer Ausbildung, möglicherweise.“
Mia tippte sich mit dem linken Zeigefinger auf ihre Zähne, was ein verstörendes Geräusch verursachte. Alice versuchte, das zu ignorieren. Das war Mias Tick, wenn sie nachdachte.
„Hmmm. Wir müssen zuerst Daten finden, an die sie sich gerne zurückerinnern.“
„Der Abschlussball unseres Tanzkurses. Wir waren beide aufgeregt wie die Teenager. Cora war seit einem Jahr geschieden und ich frisch verliebt. Ich hatte Holger im Tanzkurs kennengelernt, den ich nur Cora zuliebe besuchte. Gott, wir waren eine prima Truppe damals. Schade, dass wir keinen Kontakt mehr mit den Leuten haben.“
Dank Mia und ihren endlosen Fragen brachten sie ereignisreiche Tage im Leben der Brautleute zusammen. Alice holte Hardys besten Freund mit ins Boot, um von ihm Geschichten über dessen Lebensweg zu erfahren. Dann begann Mia mit ihrer Recherche. Überall im Internet suchte sie nach schönen, lustigen, kuriosen Ereignisse, die zu den ihr genannten Daten passten.
Die Zeitung nahm Gestalt an. Die beiden Frauen hatten große Spaß an ihrer Arbeit. Alice war fast enttäuscht, als die endgültige Fassung der Gazette vor ihr lag. Allein das Lesen all der frohen Meldungen hatte ihr jeden Tag ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Das Heft war ein Mix aus Erinnerungen der Brautleute an glückliche Stunden sowie Artikel über Ereignisse aus diesen bewegten Tagen. All diese Nachrichten waren durchweg positiv.
Nicht nur Hardy und Cora waren begeistert. Ihre Gäste, das Personal des alten Familien-Gasthofes, wo die Feier stattfand, und insbesondere deren Chef, lobten Alice und Mia in den höchsten Tönen.

Einige Tage nach der Feier tauchte der Wirt völlig unverhofft bei Alices Arbeitsplatz auf. Sein Anliegen machte sie erst einmal sprachlos. Er erzählte ihr, dass sein Restaurant seit einhundert Jahren im Besitz seiner Familie war.
„In zwei Monaten feiern wir Jubiläum. Es kommen viele illustre Gäste. Denen will ich etwas Besonderes bieten. Sie haben mich auf die Idee gebracht.“
. Er hatte eine Kiste unter dem Arm. Diese stellte er auf ihrem Schreibtisch ab und öffnete sie. Sie war vollgestopft mit alten Bildern aus der hundertjährigen Familiengeschichte. Begeistert wühlte er darin und zeigte Alice voller Freude die uralten, teilweise vergilbten Fotos.
„Sehen Sie, alle sind mit Daten versehen. Da können sie prima mit arbeiten. Ich zahle Ihnen, was immer Sie verlangen. Die ganze Zeit habe ich mir wegen des Jubiläums den Kopf zerbrochen. Ich wollte etwa Besonderes, etwas an das man sich stets und gern erinnert. Seit ich ihre Hochzeitszeitung für Cora und Hardy gesehen habe, war mir klar: Das ist es! Ein Magazin aus einhundert Jahren, vollgestopft mit frohen Ereignissen. Keine Weltkriege, nicht mal das Ende davon will ich in meiner Zeitung haben. Mein Onkel ist 1945 gefallen, mit sechzehn, zwei Tage vor Schluss. Meine Mutter ist nie darüber hinweggekommen. Ausgerechnet ihr kleiner Bruder. Sie hatte ihn praktisch von Geburt an betreut. Ihre Mutter hatte ja keine Zeit. Vier Kinder, das Restaurant, die Männer im Krieg. Nee, nix davon soll Einzug in meine Jubiläumszeitung halten. Ich will Friede! Freude! Eierkuchen!“

Zuerst wollte Alice nicht an die Sache ran. Die Zeitung für Cora war ein einmaliger Freundschaftsdienst gewesen. Dann erinnerte sie sich an den Spaß, den sie bei der Erstellung der Gazette hatte. Das Geld, das man ihr bot, war ebenfalls nicht zu verachten, wie sie sich eingestand. Mit der Zusage, die Sache mit Mia zu besprechen, verabschiedete Alice ihren potenziellen Kunden. Es stellte sich heraus, dass es kaum etwas zu bereden gab. Mia fiel ihr begeistert um den Hals und damit war die Sache geklärt.

So fing es an. Ein Jahr später hatten Mia und Alice ihren Job in der Redaktion halbiert, um mehr Zeit für ihre Aufträge zu haben. Sie erstellten Magazine mit glücklichen, friedlichen, kuriosen Artikel. Mia machte sich auf die Suche im Internet und Alice war verantwortlich für den Satz und den Druck. Jedes Event brachte neue Kunden. Dann kam Mia mit der Idee eine Zeitung online zu stellen, für jedermann. Letztlich sehnten sich alle Menschen nach positiven Meldungen. Negative Nachrichten fand man in den Tageszeitungen und den Fernsehnachrichten im Übermaß.
Alice überlegte dieses Mal nicht lange. „Ich bin dabei!“
Sobald das erste Magazin, das von jetzt an monatlich erscheinen sollte, online war, stiegen die Klickzahlen. Alice schüttelte den Kopf, wie rasant es sich herumsprach, dass man bei ihnen Nachrichten der anderen Art erhielt. Sie finanzierten sich durch Werbung, die aber ihrem Konzept entsprechen mussten. Denn, wie hatte ihr erster Kunde genau präzediert, wie er sich seine Zeitung vorstellte:
„Friede, Freude, Eierkuchen!“

Diesem Motto blieben die beiden Redakteurinnen konsequent treu.

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