Birgit Loos

Wie Moni die Welt sah


Sie erwachte aus einem tiefen dunklen Traum. Ihre Gedanken rauschten wie Meteoriten durch ihren Kopf. Nicht einer stand eine Sekunde lang still, um ihr einen Einblick über das Warum und wohin zu geben. Vergeblich versuchte sie, die Augen zu öffnen. Doch eine dicke Schicht aus Lavasteinen lag auf ihren Lidern. Sie blieben geschlossen. Egal, wie sie sich anstrengte. Ihre Arme, Hände und Beine waren gefesselt. Sie konnte sich keinen Millimeter bewegen. Nicht einmal ihre Zehen gehorchten ihr. Ihr Kopf lag fest auf einer Unterlage. Jeder Anstrengung zum Trotz konnte sie ihn weder in die eine oder andre Richtung drehen, geschweige denn ihn heben. Was zum Teufel war mit ihr geschehen?
Seltsame Geräusche drangen an ihr Ohren. Diese funktionierten einwandfrei. Im Gegensatz zu ihren Extremitäten und ihre Augen. Langsam arbeite sich ihr Gehirn aus dem Chaos, in dem es gefangen war, heraus. Das nervtötende „Pling“, das in Dauerschleife an ihre Ohren drang, erschien ihr wie Laute aus einem fernen Universum.
Gleich darauf hörte sie eine menschliche Stimme. Besonnen und tröstend.
„Setzen Sie sich, Herr Sievers. Sprechen Sie mit ihrer Frau. Es kann sein, sie versteht Sie. Halten Sie ihre Hand, lassen Sie sie wissen, dass Sie da sind.“
Sie zuckte zusammen, jemand ihre Finger ergriff und sanft drückte.
„Was machst du denn für Sachen, Moni. Wieso hast du das Auto übersehen? Du musst aufpassen, beim Fahren. Immerzu lässt du dich ablenken.“
In ihr kochte die Galle hoch. Sie wollte ihm ihre Hand entziehen. Vergeblich. Volker hielt sie fest, als wäre er ein menschlicher Schraubstock. Sie gab es auf. Dann sollte er sie eben behalten. Sie hatte keine Kraft zu kämpfen. Aber sie würde ihm sagen, dass dieser blöde Unfall nicht auf ihre Kappe ging. Sie hatte aufgepasst, sie war nicht abgelenkt gewesen. Die verdammte Ampel war grün, als sie losfuhr. Sie probierte, den Mund zu öffnen und ihm genau das unter die Nase zu reiben. Doch nichts geschah. Nicht eine Silbe konnte sie formen. Ihre Zunge lag da wie ein totes Stück Fleisch. Ihre Lippen waren trocken, rissig und unwillig sich nur einen Spalt breit zu bewegen.
„Moni, bitte lass mich nicht allein,“ weinte ihr Mann.
Erstaunt hielt sie inne. Einen weinenden Volker hatte sie zuletzt gesehen, als er den Sechser im Lotto um jeweils eine Zahl verpasst hatte. Viermal in einem Kästchen. Aber ansonsten galt das Motto: Ein echter Mann weint nicht. Schon gar nicht um eine Frau wie sie.
„Komm zurück zu mir, hörst du?“, bettelte er in diesem Moment. Er räusperte sich. Dann fuhr er fort: „Ich soll Erinnerungen in dir wecken. Ehrlich, ich habe mir lange überlegt, welche Zeiten ich in dir wachrufen könnte. Aber mir fällt einzig diese eine Sache ein. Weißt du noch? Wir hatten Karten für das Schloss, wo dieser Sternekoch arbeitete. Nach dem Vier-Gänge-Menü gab es einen Ball. Du hast dich so auf diesen Abend gefreut. Aber als es so weit war, habe ich nur gemeckert. Über das Essen, über den Kellner, über den Ballsaal, die Musik. Ich habe mich geweigert, zu tanzen, und wir sind während des gesamten Balls hocken geblieben und haben kaum miteinander geredet. Du warst davon überzeugt, dass ich sauer war, weil ich nicht zum Fußball gehen konnte, wo doch die Eintracht an diesem Tag in der Europa-League spielte. Aber, mein Schatz die Wahrheit, war eine völlig andere. Diese beiden Karten haben ein Vermögen gekostet und ich wollte dir damit eine Freude machen. Um sie bezahlen zu können, habe ich etwas Schwarzarbeit angenommen. Leider. Denn ich verletzte mich morgens bei dieser Arbeit. Der Bauherr hat mich selbst verarztet. Na ja, er war Zahnarzt und hat einen Kollegen gefragt, was er tun soll. Wir wollten alle keinen Ärger haben, weshalb ich nicht zu einem regulären Arzt gegangen bin. Deshalb tat ich, als wäre nichts geschehen. Dabei konnte ich ohne Schmerzen keinen Schritt tun. Schon gar nicht tanzen. Ich wollte dir den Abend nicht verderben. Leider ist mir das nicht geglückt. Denn natürlich wolltest du das Tanzbein schwingen, dich überall umsehen, den Abend genießen. Doch ich habe alles verdorben. Mein Bein tat höllisch weh. Ich betrank mich, um die Qualen zu betäuben. Am Ende musstest du einen Besoffenen nach Hause kutschieren. Du wolltest nie, dass ich nebenher arbeite. Weil du Angst hattest, dass mir etwas passiert. Ein einziges Mal machte ich eine Ausnahme, um dir einen Traum erfüllen zu können. Es tut mir leid, Moni. So hatte mir diesen Abend nicht vorgestellt. Ich habe es total vermasselt.“
Ach du Liebes bisschen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Gott, war sie stinkig auf Volker gewesen. Eine ganze Woche hatte sie kaum mit ihm gesprochen, ihn mit Vorwürfen überhäuft. Er hatte Schmerzen? Wieso hatte sie nichts davon mitbekommen? Sie bewegte ihre Finger, um sich mit seinen zu vereinen. Doch nichts geschah. Sie lag da, wie Schneewittchen in ihrem Sarg, während ihr Prinz sich die Augen aus dem Kopf heulte.

Erneut tauchte sie aus der Dunkelheit auf. Wieder hatte sie Probleme, sich zurechtzufinden. Enttäuscht gab sie es schon nach kurzer Zeit auf, ihren Körper zu einer Reaktion zu bringen. Weder konnte sie die Augen öffnen, noch ihre Stimme benutzen oder irgendein Glied bewegen. Nur ihre Ohren standen auf Empfang.
Eine Hand streichelte über ihren Arm. Ein sanfter Sopran erklang. Zuerst fiel es ihr schwer, zu verstehen, was dieser ihr sagte. Es kostete sie Mühe, die Unbekannte zu identifizieren.
„Moni, es tut mir so leid, dass wir uns zerstritten hatten. Wenn du wieder gesund bist, dann sollten wir unbedingt miteinander reden. Wir sind Schwestern. Wir sollten uns nicht länger aus dem Weg gehen. Bitte, gib uns die Chance, uns zu versöhnen.“
Wenn sie gekonnt hätte, wäre Moni aus dem Bett gesprungen und hätte schreiend und tobend den Raum verlassen. Aber sie konnte nicht. Sie war gezwungen, steif wie ein Brett, auf diesem Totenlager zu liegen und die Worte ihrer verlogenen Schwester zu hören. Keine Folterbank konnte schmerzvoller sein. Wie war sie nur in diese Situation geraten?
„Ach, Moni weißt du noch? Als wir Kinder waren. Wir haben uns so gut verstanden. Du warst immer meine große Schwester, die ich bewundert habe.“
Ja, klar. Deshalb hast du mir die abgelutschte und angefressene Gummischlange gegeben. Unsere Großmutter hatte dir zwei geschenkt. Eine für jeden von uns. Und du hast mir meine erst ausgehändigt, als du ihr den Kopf abgebissen und den Rest mit deiner abstoßenden Zunge geleckt hattest. Schon als Kind konntest du mich nicht leiden und hast mir das Schwarze unter dem Nagel nicht gegönnt. Moni kochte vor Zorn. Doch ihre Schwester bekam davon nichts mit. Sie sprach weiter.
„Weißt du, dass unsere Großmutter seit Beginn an, versuchte, uns auseinanderzubringen. Ich habe keine Ahnung wieso, sie das getan hat. Bis zu ihrem Tod fand sie ihre Freude darin, die Menschen in ihrem Umfeld zu entzweien. Leider ist es ihr gelungen. Immer wieder. Du hast mir nicht mehr getraut, seit dieser Kirchweih, wo sie mir die Gummischlangen schenkte. Du weißt, wie scharf wir auf dieses Zuckerzeug waren. Sie hatte vier Stück gekauft. Es versteht sich von selbst, dass ich davon ausging, die anderen beiden wären für dich. Deshalb habe ich, die zwei, die sie mir in die Hand drückte gegessen. Und sie schämte sich nicht und aß die restlichen zwei. Zu mir sagte sie, du wärest zu alt für diesen Zuckerkram und ich sollte es für mich behalten. Ich fand das so gemein von ihr. Hätte sie es mir früher gesagt, dann hätte ich die zweite Gummischlange für dich aufgehoben. So konnte ich dir nur den kläglichen Rest schenken, denn ich wollte nicht, dass du leer ausgehst. Doch du warst sauer, weil dieses Gummitier – zugegeben – ekelerregend war, nachdem ich sie im Mund hatte. Du hast geweint und bist weggelaufen.“
Moni schnappte nach Luft. Wenigstens glaubte sie, es zu tun. Aber nichts bewegte sich. Selbst das unaufhörliche Pling der Maschine, die mit ihr verbunden war, veränderte sich nicht. Dabei war sie einem Infarkt nahe. Dieses Miststück von einer Großmutter. Sie erinnerte sich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen. Egal, was sie tat, die Oma hatte etwas an ihr auszusetzen. Nichts konnte sie dem alten Drachen recht machen. Am Ende hatte sie ihrer Schwester, ihr gesamtes Vermögen vererbt Sie selbst war leer ausgegangen. Wieder einmal. Moni glaubte zerspringen zu müssen. Alles in ihr spannte sich an. Es musste einen Weg geben, sich bemerkbar zu machen. Sie wollte ihrer diebischen Schwester endlich die Meinung geigen. Doch es war sinnlos. Sie war gefangen in ihrem Körper. Wütend gab sie auf. Ihre Schwester flüsterte ihr ein trauriges: „Auf Wiedersehen,“ zu und ließ sie allein zurück, nachdem sie ihr sanft über ihre Wange gestrichen hatte. Zu spät fiel Moni ein, dass das Erbe ihrer Großmutter aus dem ollen Plunder in deren Wohnung und einer potthässlichen Halskette bestanden hatte. Letztendlich war sie froh gewesen, leer ausgegangen zu sein.

Der nächste Besucher ließ nicht lange auf sich warten. Ihre Tochter kam. Moni konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sie bekam Panik, denn sie hörte nichts mehr. Ließen sie jetzt selbst ihre Ohren und ihr Gehirn im Stich? Blieb sie hier zurück in diesem Bett und konnte nie wieder in Kontakt mit ihren Lieben treten. Ein lebloses Stück Fleisch, das auf den Tod wartete? Nein, so hatte sie nicht gewettet. So leicht würde sie sich nicht abschieben lassen. Erst einmal musste sie ruhen. Ein wenig Schlaf, hatte schon so manchen Energieschub gebracht.

„Oma, sie wollten mich nicht zu dir lassen, weil ich ein Kind bin. Aber ich bin ihnen davongelaufen. Du musst mir jetzt zuhören und sofort aufwachen. Ich brauche dich. Mama, will nicht, dass ich zum Bogenschießen gehe. Sie sagt, Waffen sind nichts für Mädchen. Aber das ist Quatsch. Ich bin besser als alle Jungs, die im Verein sind. Du hast mich gesehen und du hast gesagt, dass das der richtige Sport für mich ist. Du wolltest mir helfen, wenn Mama mich nicht gehen lässt. Und jetzt ist es soweit. Aber du schläfst und wachst nicht auf. Die Ärztin hat gemeint, wenn wir mit dir reden, dann wirst du aufwachen. Alle haben mit dir geredet. Nichts passiert. Werde endlich munter, Oma. Du musst mit Mama sprechen.“
Die zehnjährige Eva rüttelte an ihrem Arm und wurde von Minute zu Minute lauter. Dieses Kind war eine Plage. Moni riss die Augen auf.
„Lass mich erst einmal wach werden, Eva. Was ist das für eine Art, so an einem kranken Menschen herum zu zerren?“
Eva kreischte voller Freude auf.
„Du bist wach, Oma! Ich wusste es, ich wusste, dass ich dich aufwecken kann.“
„Mal langsam mit den jungen Pferden. Kannst du dein Temperament nicht wenigstens ein bisschen zügeln?“
„Was hast du gesagt, Oma?“, schrie das Kind. „Du redest so komisch.“
Sie redete komisch? Ach, egal. Sie freute sich, dass sie überhaupt sprechen konnte. Versuchsweise hob sie den Arm und legte die Hand auf das Knie ihrer Enkelin. Dann holte sie tief Luft und in diesem Moment brach die Hölle über sie herein. Eva wurde aus dem Zimmer gezerrt. Sie hörte Volker und Liane mit dem Kind schimpfen. Mindestens zehn Menschen betatschten und begrapschten sie an jeder möglichen und unmöglichen Stelle. Lichter blendeten sie. Stethoskope, Blutdruckmessgeräte und andere Foltergeräte wurden in Stellung gebracht. Dutzende Fragen wurden ihr gestellt. Das reinste Affentheater. Jetzt war es genug. Sie hatte die Schnauze voll.
„Scheiße, was soll denn das hier? Raus! Weg mit euch!“ Sie machte eine wischende Bewegung mit ihrem Ellenbogen, so als ob sie damit all diese Menschen aus ihrem Zimmer verscheuchen könnte.
Ein Arzt wollte ihre Hand ergreifen, redete beruhigend auf sie ein. Seine Worte drangen erst gar nicht zu ihr durch. Sie entriss ihm ihre Hand und fauchte:
„Verpisst Euch. Ich will hier nur meine Familie haben. Der Rest raus hier! Und lasst Euch ja nicht einfallen und meine Enkelin von mir fernhalten.“
„Mein Gott, Moni. Wie redest du denn? So eine Sprache kenne ich gar nicht von dir. Du bist doch sonst so höflich und zuvorkommend zu jedem.“ Die Stimme ihres Mannes war brüchig. Er war fassungslos über das Geschehen in ihrem Krankenzimmer.
Eine Schwester überreichte dem Arzt eine Spritze. Moni fuhr hoch wie von der Tarantel gestochen.
„Wagen Sie es ja nicht, mich nieder zu spritzen. Ich will mit meiner Familie reden. Vielleicht ist dies das letzte Mal. Da werden sie mich nicht unter Drogen stellen. Ist das klar? Volker, du gibst, acht, dass die mich nicht eher berühren, bis ich es ihnen erlaube!“, befahl sie. Ihr Mann stand da mit weit aufgerissenen Augen und wagte keine Bewegung. So hatte sie sich nie benommen.
„Frau Sievers, jetzt beruhigen sie sich bitte. Niemand will ihnen etwas Böses. Im Gegenteil. Wir alle sind froh, dass sie wieder aufgewacht sind. Sie haben Angst. Das ist verständlich. Deshalb lassen sie mich Ihnen helfen. Nach dieser Spritze werden sie etwas ruhiger werden. Verstehen Sie mich?“
„Ich bin ja nicht blöd. Vielen Dank. Ich will mich nicht beruhigen. Ich lag hier wie auf Eis gebettet und habe jedes Wort gehört, dass man mir sagte, und konnte mich niemanden mitteilen. Das hat jetzt ein Ende. Lassen Sie mich mit meiner Familie allein. Ich brauche nur ein paar Momente mit meinen Lieben. Später können sie kommen, und mir alles geben, was ihnen notwendig erscheint. Bitte.“, fügte sie etwas freundlicher hinzu.
Der Arzt nickte, winkte seinen Mitarbeitern zu, flüsterte Anweisungen in Volkers Ohr und dann war endlich Ruhe in ihrem Zimmer. Ihr Mann, ihre Tochter und ihre Enkelin standen an ihrem Bett und betrachteten sie, als wäre sie ein Alien.
„Mama, was war denn das eben?“ Liane musterte sie erschüttert. „Ich habe ja nicht alles verstanden, was du gesagt hast. Meist nur Schimpfwörter. Aber Halleluja. Das war echt krass.“
„Ich fand es toll,“ ließ sich ihre Enkelin vernehmen.
„Ruhe!“, schrie Volker. „Moni, reiß dich zusammen. So kannst du dich nicht benehmen.“
„Ach lutsch doch ein Ei, Volker. Zu dir komme ich später. Erst einmal, was bitte soll das? Wieso lässt du das Kind nicht zum Bogenschießen gehen, Liane?“
Ihre Tochter räusperte sich. „Gibt es jetzt nichts Wichtigeres zu besprechen, als Evas Spinnereien?“
„Nein!“, gab sich ihre Mutter stur. „Erstens ist es keine Spinnerei, sondern es gefällt ihr. Jedenfalls besser, als der Ballettunterricht, auf dem du bestehst. Sie ist keine Ballerina, eher ein Naturkind und du kannst sie nicht ändern. Sie braucht Bewegung und frische Luft und einen Ort, wo sie sich austoben kann.“
„Mama, sprich langsam. Ich habe Mühe, dich zu verstehen. Deine Sprache ist echt etwas verwaschen.“
Moni verdrehte die Augen und wiederholte, was sie gesagt hatte. Ihre Tochter sah sie sprachlos an.
„Das sagst ausgerechnet du. Weißt du, als ich eine Pfadfinderin werden wollte? Du hast das vehement verhindert. Stattdessen sollte ich eine zweite Anna Ballerina werden. Dabei bin ich ständig über meine Füße gestolpert und habe es gehasst, auf den Zehen zu tanzen. Aber jede Woche hast du mich in dieses Kinderballett gezerrt, egal, wie ich mich wehrte.“
„Na ja, Fehler macht jeder. Auch ich,“ nuschelte ihre Mutter.
„Ich habe mir gedacht, wenn ich schon keine Gnade vor deinen Augen finden konnte, dann sollte wenigstens Eva deinen hohen Ansprüchen genügen. Deshalb habe ich sie zum Ballett angemeldet. Ich wollte, dass du sie liebst. Selbst wenn, du mich nicht magst.“
Moni schnappte nach Luft. Was redete ihre Liane da? Sie war stolz auf sie gewesen. Sie war ein liebes Mädchen. Eine toughe Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand. Eine Frau, die ihre Tochter zu einem selbstbewussten, glücklichen Kind erzogen hatte. Sie liebte sie. Wie um alles in der Welt kam Liane auf den Gedanken, Moni hätte sie nicht geliebt.
„Hör mal zu, mein Kind. Ich habe dich letztlich zu den Pfadfindern gehen lassen und war stolz auf jeden Erfolg, den du in deinem Leben erzielt hast. Ich liebte dich von dem Moment an, als ich wusste, dass du in meinem Körper heranwächst, und ich werde dich lieben, wenn ich meinen letzten Atemzug tue. Ja, es war falsch, dich zu etwas zu zwingen, was du nicht wolltest. Es war mein Traum, nicht deiner. Aber jetzt mach nicht den gleichen Fehler bei Eva, wie ich ihn bei dir gemacht habe. Das blöde Ballett ist nichts für sie. Lass sie Bogenschießen lernen. Lass sie raus in die Natur und mit den Schmetterlingen um die Wette rennen. Aber hör auf, sie zu quälen mit dieser Tanzerei, die sie von ganzem Herzen hasst. Schon gar nicht, um mir einen Gefallen zu tun. Wie ist es möglich, dass all diese Missverständnisse zwischen mir und den Menschen, die ich liebe stehen?
Wie konnte es geschehen, dass mein Ehemann glaubt, er müsste mir eine Verletzung verschweigen, aus Angst ich würde ... Ach ich weiß nicht, mich scheiden lassen, weil er versuchte mir eine Freude zu machen und dafür etwas Geld nebenher verdienen musste. Wieso glaubt meine Tochter, ich würde sie nicht lieben und versucht sich diese Liebe dann zu erkaufen, indem sie ihre Tochter zwingt, die gleichen Qualen zu durchleiden, wie sie selbst in ihrer Kindheit? Wieso hat meine Schwester sich vor Jahren von mir abgewandt, anstatt mir einmal zu sagen, dass sie mich liebt?
Apropos meine Schwester. Volker, ruf sie an. Ich werde es nicht zulassen, dass sie sich wieder in ihrem Appartement verkriecht und ihre Wunden allein leckt. Wir sind verdammt noch einmal eine Familie und sie gehört dazu. Sag ihr das. Sag ihr, ich will sie hier sehen. An meinem Bett.
Und ruf den Arzt rein. Ich denke, ich benötige ein bisschen Schlaf. Es ist anstrengend, wenn man nach so langer Zeit feststellt, dass die Welt, wie man sie bisher sah, eine völlig andere ist. Ich brauche etwas Ruhe. Macht euch keine Sorgen, ich werde schon wieder wach und dann werden wir uns weiter unterhalten. Vor allem werden wir darüber reden müssen, ehrlich miteinander zu sein und nicht aus falsch verstandener Rücksichtnahme um den heißen Brei herumzureden. Das führt nur zu Missverständnissen. Jetzt lasst mich allein.
Keine Angst, ich werde wieder wach. So schnell werdet ihr mich nicht los.“
Sie ließ sich erschöpft in die Kissen gleiten und hörte im Hinausgehen ihre Enkelin sagen:
„Und wenn sie nicht aufwacht, dann wecke ich sie. Ich habe es auch vorhin geschafft.“

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