Birgit Loos

Zwei Helden


Violetta Weber wartete ungeduldig in der Zehn-Uhr-Pause auf ihren besten Freund Arthur. Vergeblich hielt sie nach ihm Ausschau. Wo blieb er nur? Alle anderen waren schon längst draußen im Pausenhof. Sie seufzte. Sicher würde sie ihn im Chemieraum finden, wo er sich erneut vor seinen Klassenkameraden zu verbergen suchte. Missmutig verließ sie ihren Platz und machte sich auf die Suche nach ihm.
Niemand hätte voraussehen können, dass Violetta Weber und Arthur Hofer einmal beste Freunde sein würden. Dazu waren sie zu verschieden. Nicht nur äußerlich. Vio, wie sie sich selbst nannte, war überdurchschnittlich groß für ein Mädchen. Sie hatte den Kopf voller Locken, die ihr ungezähmt über die Schulter fielen. Sie war die Beste im Sport. Und die Wildeste der gesamten Schule. Sie hatte vor nichts und niemanden Angst.
Arthur Hofer hingegen war mindestens einen Kopf kleiner als Vio, obwohl sie gleichaltrig waren. Er trug eine Brille. Ohne ihn beleidigen zu wollen, konnte man ihn als Nerd bezeichnen. Den ganzen Tag las er. Nicht etwa Abenteuerromane, was Vio verstanden hätte. Nein, Arthur las Bücher über wissenschaftliche Abhandlungen. Physik war sein Steckenpferd. In der Schule galt er als Überflieger. Seinen Klassenkameraden war dies Grund genug, ihm jeden Tag die Hölle auf Erden zu bereiten. Mehrmals in der Woche kam es zu Rangeleien, bei denen er stets unterlegen war. Bis Vio für ihn eintrat. Für Violetta war Fairness das oberste Gebot. Ohne groß darüber nachzudenken, schlug sie sich auf Arthurs Seite, als dieser wieder einmal von seinen Mitschülern traktiert wurde. Er nahm sich ein Herz und kämpfte gemeinsam mit Vio gegen die Rabauken, die ihn nicht in Frieden ließen. Zu guter Letzt wurden die Kontrahenten durch die Lehrer getrennt und mussten alle nachsitzen.
Seit diesem Tag waren die wilde Violetta und der Nerd Arthur dicke Freunde.
In den nächsten Monaten lernte Vio ihren neuen Kumpel Radfahren, Schwimmen, Skaten. Dieser revanchierte sich mit Nachhilfe in Mathematik, Physik und Englisch. Sie hörte ihm zu, wenn er von seinen Experimenten berichtete. Nie sagte sie ihm, dass er sie langweile. Andererseits lauschte er ihr schweigend, während sie ihm in epischer Breite von ihren angeblichen Abenteuern erzählte.
Seit Arthur mit Vio befreundet war, bekamen seine Eltern öfter blaue Briefe nach Hause geschickt. Denn Schuleschwänzen gehörte dazu, wenn man Vio zur Freundin hatte. Sie hielt es in der Penne nicht aus. Ihre überbordende Fantasie und ihr Bewegungsdrang ließen sich nicht einsperren. Mindestens einmal in der Woche überredete sie Arthur, mit ihm die Schule zu verlassen oder erst gar nicht hinzugehen. Die anderen vier Tage überzeugte er sie, es nicht zu tun.

Vio steckte ihren Kopf in den Chemiesaal und flüsterte übermäßig laut: „Arthur bist du da?“
Ein Schluchzen erklang. Vio betrat vorsichtig den Raum und machte sich auf die Suche nach ihrem Freund. Als sie ihn endlich fand, schnappte sie nach Luft.
„Wer war das?“ , verlangte, sie zu wissen.
Arthurs Hemd und Hose waren nass, als hätte er damit unter der Dusche gestanden.
„Ist egal“, grummelte er und versuchte, sich von ihr wegzudrehen. Doch Vio ließ das nicht zu.
„Sag schon! Was ist passiert? Wer war das?“
„Sag ich nicht. Du kriegst nur wieder Ärger, weil du glaubst, du müsstest mich verteidigen.“
Vio schnaubte wie ein wütender Stier. „Das lass mal meine Sorge sein. Jetzt rede!“
Arthur war klar, Vio würde sich erst zufriedengeben, wenn sie die ganze Geschichte erfahren hatte. Seufzend wischte er sich die Tränen vom Gesicht.
„Ist doch egal. Scheiß der Hund drauf.“
Vio schnappte nach Luft. Arthur fluchte sonst nie. Das war eine Premiere.
„Sie haben ganze Arbeit geleistet, diese Blödmänner. Schau!“ Er hielt ein trauriges Etwas in die Höhe, das einmal ein teures Sachbuch gewesen war.
„Sie haben mir mein neues Buch geklaut. Ich bin ihnen nachgerannt. Aber sie waren schneller. Sie haben es in der Sporthalle in die Dusche geworfen und das Wasser angestellt. Ich wollte es mir holen, doch die Idioten haben mich davon abgehalten und mich gleich mit geduscht. Irgendwann hatten sie die Schnauze voll und sind abgehauen. Mir reichts es. Blöde Schule! Ich bleib hier nicht mehr. Ich hau ab!“
Damit stand er auf und ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei. Vio starrte ihm einen Moment entgeistert nach. Dann setzte sie sich in Bewegung. Auch das war eine Premiere. Arthur machte nie blau. Es sei denn, sie überredete ihn dazu.
„Warte! Ich komme mit. Hatte heute ohnehin keine Lust auf Schule.“
Sie hakte sich bei ihm unter und gemeinsam verließen unbemerkt den Schulhof.

Sie gingen zu dem kleinen Fluss, der an ihrem Heimatort vorbeifloss. Zu Beginn des Frühlings hatten sie sich dort eine Unterkunft gebaut. Arthur hatte die Pläne erstellt, während Vio das Holz, die Nägel und das Werkzeug organisierte. Obwohl ihr Freund kein begnadeter Handwerker war, schafften sie es gemeinsam eine trockene Hütte, zu bauen. Hierhin zogen sie sich zurück, wenn für sich sein wollten.
Am späten Nachmittag begann das Gewitter. Es war unheimlich, wie schnell es gekommen war. Blitze zuckten, Donnerschläge hallten. Der Himmel öffnete seine Schleusen und eine Sturzflut brach über sie herein. Die Kinder beschlossen in ihrer Hütte das Ende des Sturms abzuwarten. Doch der Orkan hatte nicht die Absicht weiterzuziehen. Obwohl es erst später Nachmittag war, wurde es dunkel. Dicke, schwarze Regenwolken verhüllten jedes Licht. Langsam bekamen es die beiden mit der Angst zu tun. Es war gruselig. Vio, die sich so schnell vor nichts fürchtete, kuschelte sich näher an Arthur. Dieser sah sich den Wolkenbruch interessiert an. Er zählte die Sekunden zwischen Donner und Blitz und berechnete, wann das Gewitter sich verziehen würde. Er erzählte seiner Freundin alles, was er über die physikalischen Gesetze, die bei solchen Unwettern eine Rolle spielten, wusste. Ohne es zu ahnen, lenkte er das Mädchen mit seinem Vortrag bestens von ihren Ängsten ab. Sie würde es Arthur niemals gestehen, aber Vio hatte Panik vor Blitzen, wenn sie sich im Freien befand.
Der erste Schwall Wasser, der in ihre Hütte einbrach, schreckte beide auf.
„He, was soll das? Seit wann regnet es hier rein?“, fragte Vio ärgerlich. Arthur stand auf und ging zum Eingang, um nachzusehen, was die Ursache für den Wassereinbruch war. Vor Schreck erstarrte er. Dann schrie er laut auf:
„Vio, lauf! Hier gibt es gleich eine Überschwemmung! Wir müssen weg!“
„Was? Wieso?“, fragte seine Freundin begriffsstutzig.
Arthur machte sich keine Mühe ihr zu erklären, dass der Fluss über seine Ufer getreten war und jetzt das umliegende Land überschwemmte. Er schnappte ihre Hand und zog sie mit nach draußen in das tobende Unwetter.
„Schnell, lauf! Wir müssen hier weg!“
Vio tat wie ihr geheißen. Hand in Hand liefen die beiden Kinder vor den gierigen Wassermassen davon. Außer Atem hielten sie auf dem Uferdamm an und beobachteten das Wasser. Arthur bemerkte es als Erster.
„Der Deich bricht! Lauf! Wir müssen die Menschen im Dorf warnen.“
Sie rannten nach Hause. Ständig sahen sie über ihre Schultern, ob das Wasser ihnen folgte. Bisher war nichts zu sehen. Keuchend blieben sie am Ortseingang stehen.
„Was jetzt? Willst du schreiend durch die Ortschaft laufen?“, fragte Vio atemlos.
Arthur überlegte einen Moment.
„Wir müssen die Menschen auf die Straße bringen. Sie müssen gewarnt werden, dass die Flut kommt. Alle müssen raus aus dem Dorf. Am besten auf einen Berg.“
Vio schüttelte den Kopf. „Und wie willst du sie warnen?“
Arthur holte tief Luft, dann befahl er dem Mädchen.
„Renn zum Pfarrer. Der soll die Kirchenglocken läuten, um die Menschen zu alarmieren.“
„Der glaubt mir im Leben nicht,“ widersprach Vio und dachte an die unzähligen Streiche, die sie dem Geistlichen gespielt hatte.
„Versuchs trotzdem. Dann lauf zum Bürgermeister. Oder klingel an jeder Haustür, Schrei! Mach dich bemerkbar! Wenn sie dir nicht glauben, sollen sie doch zum Fluss gehen und sich selbst überzeugen.“
„Und was tust du?“ Vio war von seinem Plan nicht überzeugt.
„Ich werde versuchen die Leute mit einer Explosion aus den Häusern zu bekommen,“ erklärte ihr Freund, so als wäre das die normalste Sache der Welt.
„Hä?“, Vio glaubte, sich verhört zu haben.
Arthur schubste sie in Richtung der Kirche. „Tu, was ich dir sage. Vertrau mir.“
Zögerlich gehorchte sie ihm, während ihr Freund zu seinem Elternhaus rannte.

Vor einiger Zeit hatte Arthur eine Dokumentation gesehen. Seitdem wusste er, wie man mit gewöhnlichen Materialien eine Explosion auslösen konnte. Er hatte sich die notwendigen Utensilien besorgt, um es selbst auszuprobieren. Letzten Endes hatte ihn der Mut verlassen. Es erschien ihm zu gefährlich. Aber dies war ein Notfall. Deshalb würde er das Material jetzt doch verwenden. Es würde schon alles Gutgehen, redete er sich ein. Letztlich hatt er keine andere Wahl. In Windeseile begann die erforderlichen Substanzen zu vermischen. Dann legte er eine lange Zündschnur, ging rückwärts nach draußen und krachte in seinen Vater.
„Kannst du mir mal sagen, was das soll? Wo warst du die ganze Zeit? Die Schule hat angerufen. Du und Vio habt wieder einmal geschwänzt! Und jetzt läufst du im strömenden Regen herum und hantierst mit ... Was ist das? Etwa eine Lunte?“
„Ja, genau! Wir brauchen einen lauten Knall, um das Dorf aufzuwecken. Der Fluss ist über die Ufer getreten. Der Deich bricht. Vio und ich waren dort und haben es gesehen. Wir müssen hier weg, bevor das Wasser kommt.“
Arthurs Vater sah ihn an, als wäre er vollkommen verrückt geworden.
„Wenn du mir nicht glaubst, dann lauf hin und sieh selbst. In der Zwischenzeit werde ich die Explosion einleiten.“
Sein Vater wurde blass. Er packte Arthur am Arm, zog ihn ins Haus, wo er ihn seiner Mutter übergab.
„Du wirst gar nichts tun! Hier! Pass, auf unseren Sohn auf. Dieser verrückte Junge will die Scheune in die Luft sprengen.“
Seiner Mutter stand vor Entsetzen der Mund offen. Unbeirrt sprach sein Vater weiter:
„Wo ist denn Vio jetzt? Ihre Eltern haben schon mehrfach bei uns angerufen und sich nach Eurem Verbleib erkundigt.“
Arthur stampfte mit dem Fuß auf: „Vio alarmiert den Pfarrer. Er soll die Glocken läuten. Dann will sie die Menschen im Dorf rausklingeln. Aber ich glaube nicht, dass das genügt. Wir brauchen einen riesigen Knall, etwas das alle auf die Straße bringt. Wir müssen den Ort verlassen haben, bevor uns die Flutwelle erreicht.“
Seine Mutter wurde kreidebleich bei seinen Worten, während sein Vater sich eine Regenjacke schnappte und das Haus verließ.
„Ich werde die Feuerwehr informieren. Ihr packt das Notwendigste zusammen, setzt euch ins Auto und fahrt hinauf nach Burg Wildenstein. Dort seid ihr sicher.“
Mit diesen Worten lief der Vater aus dem Haus. Minuten später heulte die Sirene in der Nachbarschaft auf. Gleich darauf wurde eine Zweite laut, dann eine Dritte. Das ganze Dorf wurde durch die schrillen Sirenentöne geweckt. Nach kurzer Zeit wussten alle über die drohende Flutwelle Bescheid und rannten um ihr Leben.

Arthur half seiner Mutter Decken, Wasser und einige Lebensmittel in das Auto zu schaffen, als sein Vater hereinstürzte. In seinem Schlepptau hatte er Vio, die sich schreckensbleich an ihn klammerte.
„Die Kinder haben recht. Wir haben keine Zeit mehr. Der Damm ist gebrochen. Wir fahren sofort los. Vios Eltern werden auch nach Wildenstein kommen. Ich habe ihrem Vater versprochen, dass ich auf sie aufpasse, bis er und seine Frau die Tiere in Sicherheit gebracht haben.“
Arthurs Mutter nickte aufgeregt. Sie hüllte die Kinder in Decken, riss zwei dicke Jacken von der Garderobe und rannte mit den Beiden und ihrem Mann zu dem VW-Bus, der in der Einfahrt parkte. Sie saßen kaum im Auto, da fuhr sein Vater mit quietschendem Reifen los.
Auf Burg Wildenstein versammelten sich die Opfer der Flut. Voller Entsetzen sahen sie hinab ins Tal. Aus dem kleinen, unscheinbaren Flüsschen war ein reißender Strom geworden, der alles mit sich riss, was sich ihm in den Weg stellte.
„Violetta!“ Vios Eltern stürmten auf ihre Tochter und Arthurs Familie zu und zogen sie in ihre Arme.
„Gott sei Dank, dir ist nichts geschehen.“
Innerhalb kürzester Zeit waren sie umstellt von den aufgelösten Dorfbewohnern. Alle wollten sich bei Vio für ihre Klingelaktion bedanken, die viele Bewohnern rechtzeitig vor der drohenden Flut gewarnt hatte. Arthur zog sich heimlich aus dem Kreis der aufgeregt schwatzenden Erwachsenen zurück. Er war mit seinem Plan, die Dörfler mit einer gewaltigen Explosion zu alarmieren gescheitert. Doch Vio wäre nicht Vio, wenn sie ihren Freund vergessen hätte. Lauthals schrie sie die Leute an:
„Ruhe! Hört auf, euch bei mir zu bedanken. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ja, ich habe nicht einmal bemerkt, dass der Damm brach. Arthur war es. Er hat mich auf Klingelzug geschickt und gesagt, ich soll den Pfarrer die Glocken läuten lassen und den Bürgermeister informieren. Ohne ihn wärt ihr alle abgesoffen. Denn ehrlich, ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.“
Arthurs Vater legte seinem Sohn den Arm um die Schultern und sah ihn stolz an, dann erzählte er eine leicht abgeänderte Geschichte, des Einsatzes seines Jungen.
„Arthur lief mir zu Hause direkt in die Arme und berichtete mir von dem Dammbruch. Es war seine Idee, möglichst viel Lärm zu machen, um euch alle zu wecken. Deshalb bin ich durch den Ort gefahren und habe überall die Feuermelder eingeschlagen. Unsere Kinder sind etwas Besonderes. Ohne sie hätte dieser Abend in einer Tragödie geendet. Gott sei Dank, haben wir keine Menschenleben zu beklagen.“
Die Kinder bekamen vor Aufregung rote Wangen, während ihre Eltern mit Stolz auf sie blickten.

Von diesem Tag an, waren sie die Helden ihres Dorfes.

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