Birgit Loos

Der neue Job


Anna-Marie ist nervös. Heute wird es sich entscheiden, ob sie die neue Assistentin der angesagten Berliner Mode-Designerin Maria Hansen wird. Seit drei Monaten arbeitet sie als Praktikantin in deren Modebetrieb.
Seit dieser Zeit buhlen sie und eine weitere Mitbewerberin um die Gunst der Diva. Sie sind sich für nichts zu schade. Jeden Drecksjob, jede Überstunde haben sie freiwillig übernommen. Sie haben sich fast darum geschlagen, wer der Chefin ihren morgendlichen Latte Macchiato Karamell bringen durfte. Wie kleine Kinder, die um die Wette rennen, um als Erster an ein Spielzeug zu kommen, liefen Anna-Marie und ihre Konkurrentin Morgen für Morgen zu dem Coffee-Shop um der Chefin ihren Aufputschdrink überreichen zu können.
Mit einem triumphierenden Lächeln trug der Sieger dieses Wettkampfes den Latte Macchiato vorsichtig in der Büro der Designer Queen. Keine von ihnen bekam jemals das Geld erstattet, das sie für den Kaffee ausgegeben hatten. Es wurde von der Chefin als Selbstverständlichkeit angesehen, ihren Kaffee vor Arbeitsbeginn zu erhalten. Wer diesen bezahlte, war ihr gleichgültig. Die beiden Bewerberinnen um diesen Traumjob in der Modebranche hätten sich lieber in einen Löwenkäfig sperren lassen, als die Chefin jemals um das Geld für ihren Kaffee anzusprechen. Dieser Job rechtfertigte alle Ausgaben, fand Anna-Marie.
Heute solle die Entscheidung fallen, wer letztendlich diesen Job bekommen würde. Anna-Marie sah sich fahrig um. Hatte sie etwas vergessen? Waren alle Aufgaben, die zu übernommen hatte, ordnungsgemäß erledigt worden? Gab es irgendwelche Beanstandungen?
Ihr fiel nichts ein. Sie war in den letzten drei Monaten die perfekte Assistentin gewesen, soweit sie das beurteilen konnte.
Freiwillig hatte sie jede Aufgabe übernommen, die angefallen war. Selbst, wenn diese Aufgaben nicht in ihren Bereich gefallen waren. Das war die Arbeit der Praktikanten. Sie taten all die Dinge, die andere nicht tun wollten. Sie unterstützten ihre Kollegen und ihre Chefs, wenn diese keine Zeit hatten. An ihrem Verhalten war nichts auszusetzen gewesen. Anna-Marie hatte ihr Letztes gegeben.
Stets hatte sie sich bemüht, mehr zu tun, als verlangt wurde. Rasch hatte sie sich einen Überblick verschafft. Nach wenigen Tagen wusste, wie der Hase in dieser Firma lief. Sie kannte die Hierarchien. Schnell hatte sie den Durchblick, bei wem man eine kesse Lippe riskieren konnte und wem man besser aus dem Weg ging.
Das Problem ist nur: Ihre Konkurrentin um die begehrte Assistentenstelle, Marie-Luise, ist ebenso engagiert, wie sie selbst. Sie ist blitzgescheit, von schneller Auffassungsgabe. Anna fürchtet, die Entscheidung, wer von ihnen beiden den heiß ersehnten Job bekommen wird, könnte knapp ausfallen.
Marie kommt um die Ecke. Sie lächelt Anna freundlich zu.
„Na, schon nervös? Ich dachte noch vor kurzem, ich wäre total aufgelöst, wenn es zur Entscheidung kommt. Doch mittlerweile, bin ich die Ruhe selbst. Entweder es klappt oder es klappt nicht. Allein die Chance hier reinriechen zu dürfen, war es wert gewesen. Findest du nicht auch?“
Anna nickt bloß. Ihr fällt keine Antwort ein.
„Möge die Bessere gewinnen,“ klingt in ihren Ohren scheinheilig. Wie ein Klischee. Lieber schweigt sie. Sie mustert ihre Konkurrentin. Tatsächlich macht sie einen völlig entspannten Eindruck. Keinesfalls nervös. Im Gegensatz zu ihr. Anna ist ein nervliches Wrack. Marie hingegen stolziert selbstbewusst durch das Modeatelier, als wäre es ihr alleiniges Recht sich hier aufzuhalten. Sie scherzt mit einigen Näherinnen, erledigt ihre Arbeit. So als wäre es ein Tag, wie jeder andere. Als stünde nicht ihre Zukunft auf dem Spiel. Nichts in ihrem Verhalten deutet daraufhin, Marla Hansen wir ihnen heute eine lebenswichtige Entscheidung verkünden.
Anna-Marie hat feuchte Hände. Sie bekommt Schnappatmung, wenn sie an den bevorstehenden Termin denkt. Erneut gehen ihr alle Eventualitäten durch den Kopf. In Gedanken geht sie nochmals ihre kleine Rede durch, die sie auswendig lernte, um Marla Hansen, von ihren Qualitäten zu überzeugen.
Sie werden gemeinsam zur Chefin gerufen. Eine Vorgehensweise, die Anna-Marie nicht gefällt. Lieber hätte sie sich unter Vier-Augen mit Marla Hansen auseinandergesetzt. Falls die Entscheidung der Chefin gegen sie gerichtet ist, möchte Anna dafür keine Zeugin haben. Schon gar nicht ihre Konkurrentin. Doch sie hat in dieser Sache leider nicht das Sagen.
Deshalb quetscht sie sich neben Marie auf das schwarze hypermoderne Ledersofa. Ihre Konkurrentin lächelt ihr aufmunternd zu. Anna hingegen hat das Gefühl auf das Schafott geführt zu werden. Zu wichtig, ist diese Entscheidung für sie und ihr weiteres Leben. Ihr gesamter Lebensplan baut darauf auf, diese Stelle zu bekommen. Eine Nichteinstellung wagt sie erst gar nicht Betracht zu ziehen. Drei Monate lang hat sie hier Sklavenarbeiten für die Hansen verrichtet. Niemand darf ihr dieses Job wegnehmen. Sie kann nicht geschlagen, besiegt nach Hause zurückkehren. Es darf nicht sein, dass Marie die Bessere ist. Marlas Entscheidung gegen sie würde sie auf ewig aus der Modebranche verbannen.
Marla Hansen rauscht wie ein Wirbelwind durch die Räume. Hektisch sieht sie sich um. Steht das Wasser da, wo sie es braucht? Ist das Fenster geöffnet? Liegen ihre zahlreichen Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte und Kreidestifte auf ihrem Platz? Wo ist ihr Kaffee? Hat jemand die kleinen Canapés, die so gerne isst, besorgt. Diese dezent auf der linken Seite ihres Schreibtisches platziert?
Anna kennt die Bedeutung jeder dieser Blicke seit Monaten. Die Bedürfnisse ihrer Chefin sind ihr in den vergangenen Monaten in Fleisch und Blut übergegangen. Letztendlich war sie diejenige, welche tagtäglich für das optimal Arbeitsumfeld sorgte. Selbst heute war sie für die Arrangements dieser wichtigen Besprechung zuständig. Anna ist sich sicher, es gibt nichts auszusetzen.
Marla Hansen mustert die Bewerberinnen für den Assistenten-Job von oben nach unten. Sie lehnt sich lässig auf ihrem Schreibtischstuhl zurück.
„Nun meine Damen, ich muss gestehen, die Entscheidung, die ich heute zu treffen habe, fällt mir äußerst schwer.“
Anna hält die Luft an, wagt es kaum mehr zu atmen. Ihr Blick fällt auf Marie. Diese sitzt lässig auf dem Ledersofa. Anna versteht das nicht. Ist Marie tatsächlich kein bisschen nervös? Nein, sie stellt keinerlei Anzeichen von Anspannung fest. Im Gegensatz zu ihr selbst, ist Marie die Ruhe in Person.
Weiß sie etwa mehr als sie, Anna? Beunruhigt blickt Anna auf ihre Schuhe. Wann endlich wird die Hansen endlich ihre Entscheidung verkünden?
Die Designer-Göttin, wie sie von ihren Mitarbeitern oftmals scherzhaft genannt wird, nimmt erst einmal einen Schluck von ihrem Kaffee. Erhöht damit – ob gewollt oder ungewollt – die Spannung.
„Nach reiflicher Überlegung habe ich mich für Marie entschieden,“ lässt sie endlich die Katze aus dem Sack.
Die Stille nach diesen Worten ist greifbar. Anna ist geschockt. Alle Hoffnung, all ihre Arbeit, ihr Engagement. Umsonst. Tränen treten in ihre Augen. Sie starrt Marie an. Die sitzt weiterhin völlig entspannt auf der Couch. Nicht den kleinsten Jubelschrei gibt sie von sich. Keinerlei Gefühlsregung zeigt sie. Anna ist fassungslos.
Wäre sie an Maries Stelle, sie hätte sich nur mit Mühe davon abhalten können, der Chefin um den Hals zu fallen. Sie hätte sich hundertfach bei ihr bedankt. Ihr versichert, sie werde ihre Entscheidung auf keinen Fall bereuen. Sie, Anna, würde sich hundertprozentig für das Modeatelier und Frau Hansen einsetzen.
Marie hingegen – schweigt. Gelangweilt blickt sie auf ihre Fingernägel, lässt nicht die kleinste Emotion erkennen. Ist dieser Frau überhaupt bewusst, was für eine Chance sie soeben erhalten hat? Hat sie realisiert, dass tausend andere Frauen sich zum Affen machen würden, um diesen Job zu bekommen? Für sie, Anna, war die Chance Assistentin von Marla Hansen zu werden, ein Sechser im Lotto.
Frau Hansen kann sich Maries Schweigen ebenfalls nicht erklären.
„Marie, ich sagte soeben, die Stelle, als meine Assistentin, ist die Ihre. Möchten Sie sich nicht dazu äußern?“
Marie hebt ihren Blick von ihren Fingernägeln. Sie schaut der Designer-Göttin direkt in die Augen.
„Warum ich?“
„Wie bitte?“, krächzt Frau Hansen. Eine derartige Reaktion hat sie nicht erwartet. Genauso wenig wie Marie.
„Ist doch eine einfache Frage. Wieso ich? Ich meine, schön, ich freue mich, dass Sie sich für mich entschieden haben. Aber mal ehrlich. Anna war diejenige, die sich in den letzten Monaten den Arsch für Sie aufgerissen hat. Sie hat jede, noch so miese Aufgabe klaglos übernommen. Sie hat ihre Launen ertragen. Sie hat alle getan, was getan werden musste, damit dieser Laden reibungslos läuft. Ich habe nur halb so Engagement gezeigt, wie Anna. Na ja, wenn es darum ging, sie bei den neuen Designs zu unterstützen, meine Ideen einzubringen. Da war ich voll dabei. Das war mein Ding. Der absolute Wahnsinn. Aber den Wettlauf, wer morgens ihren Kaffee bezahlen darf, den habe ich bereits vor vier Wochen aufgegeben.“
Anna schnappt nach Luft. Dann realisiert sie, Marie sagt nichts Falsches. Bereits seit längerer Zeit ist sie die Gewinnerin des täglichen Bring-der-Chefin-ihren-Latte-Wettbewerbs. Nicht nur das, sie ist die einzige Athletin in dieser Disziplin.
Frau Hansen hat zumindest den Anstand rot zu werden. Sie hat Schwierigkeiten mit der Beantwortung der Frage. Nach einiger Zeit wendet sie sich an Anna.
„Anna, meine Liebe. Es tut mir wirklich leid für Sie. Ich brauche jemanden, der mich herausfordert. Jemand, der mich inspiriert. Der nicht zu allem Ja und Amen sagt. Der mir auch mal Widerworte gibt, eigene Vorstellungen einbringt. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet. Da hat Marie völlig recht. Sie waren stets höflich, hilfsbereit, zuvorkommend. Die Kollegen berichten mir nur Gutes über Sie.“
Verstört aufgrund dieser Lobeshymne wagt Anna die Frage:
„Ich verstehe das nicht. Wenn Sie so von mir denken, wenn ich alles richtig gemacht habe, warum bekomme ich dann die Stelle nicht?“
Marla Hansen seufzt. Es ist ihr unangenehm, diese Frage zu beantworten.
„Weil Marie genau das nicht gemacht hat. Sie hat mir Widerworte gegeben. Sie hat mich provoziert. Ich brauche eine Assistentin. Keine Ja-Sagerin. Ich brauche jemand, der keine Angst vor mir hat.“
Anna springt auf. Sie ist stocksauer.
„Ich habe keine Angst vor Ihnen! Und ich bin keine Ja-Sagerin! Ich habe mich bemüht mein Bestes zu geben. Bei unserem Gespräch damals, sie erinnern sich? Ich bewarb mich um das Praktikum. Damals erklärten Sie mir genau, was Sie von mir erwarten. Genau daran habe ich mich gehalten.“
Sie wendet sich verzweifelt Marie zu.
„Du etwa nicht?“
Ihre Antwort ist ein weiterer Schock für Anna.
„Hin und wieder. Am Anfang. Bis es mir zu dumm wurde.“
Marie wendet sich mit einem freundlichen Lächeln Marla Hansen zu.
„Ehrlich gesagt, habe ich keine Lust mehr auf den Job. Ich habe mir das alles durch den Kopf gehen lassen und muss Ihnen heute leider sagen: Vielen Dank für das Angebot. Aber ich werde es nicht annehmen. Geben Sie Anna den Job. Sie hat alles gegeben, um sich diese Stelle zu verdienen.“
Marie grinst lediglich ob der fassungslosen Blicke von Marie und Frau Hansen.
„Warum seid Ihr so überrascht? Ich bin der Typ Mensch, der sich nicht gerne etwas sagen lässt. Sie brauchen meine Gegenrede? Die würden Sie bekommen. Das garantiere ich Ihnen. Aber wissen Sie was? Unsere Zusammenarbeit wäre ein einziger Kampf. Mag sein, dass ich Sie inspiriere, wenn ich Ihnen widerspreche. Doch mir wird das auf Dauer zu anstrengend. Ich finde, sie sollten Anna-Marie den Job geben. Sie ist Ihre Goldmarie. Ich bin es nicht.“
Mit diesen Worten steht sie auf, winkt ihnen noch ein letztes Mal freundlich zu und verlässt den Raum.
Wortlos sitzen sich Frau Hansen und Anna gegenüber. Endlich, nach wie es ihr erschien endlosen Minuten, räuspert sich die Chefin.
„Nun ja. Anna. Damit geht der Job dann wohl an Sie.“
Anna glaubt nicht richtig zu hören.. Der Traumjob gehört ihr. Sie hat ihr Konkurrentin aus dem Feld geschlagen. Richtiger ist, Marie hat freiwillig das Feld für sie geräumt.
Doch all die Freude, die Erwartung, die Anna in diese Zusage gesteckt hat, fühlten sich in diesem Moment schal an. Es ist ein bitterer Sieg. So hat sie sich das nicht vorgestellt. In diesem wichtigen Moment ihres Lebens soll Freude sie durchfließen, Stolz. Nichts davon spürt sie in sich.
Enttäuschung. Schmerz. Das sind ihre wahre Empfindungen.
Frau Hansen streckt ihr die Hand entgegen: „Nun dann Anna. Willkommen in der Firma.“
Anna zögert. Sie ist die zweite Wahl. Dieses Angebot erfolgt, weil es keine weiteren Bewerber gibt. Sie denkt zurück an die drei Monate Praktikums. An die zahlreichen Überstunden, die viele Hilfsarbeiten, die ihr aufgehalst wurden. Ihr!! Nicht Marie. Sie denkt daran wie oft sie geschluckt hat, sich jedes Aufbegehren untersagte. Will sie wirklich so weiter machen?
Sie schüttelt den Kopf. Nein! Sie wird hier nicht die zweite Wahl sein. Diejenige, die nur deshalb da ist, weil die Bessere diese Stelle nicht wollte.
Entschlossen steht sie auf, ergreift Frau Hansens Hand.
„Es tut mir leid, Frau Hansen. Ich kann Ihr Angebot nicht annehmen. Sie möchten jemand anderen auf dieser Stelle. Jemand, der sie inspiriert. Sie haben mir sehr deutlich gemacht, dass ich dieser Jemand nicht bin. Ich bedanke mich für die Chance, die Sie mir gegeben haben. Ich habe viel in diesen drei Monaten gelernt. Herzlichen Dank dafür. Ich hoffe, dass Sie bald jemanden finden werden, der Ihren Wünschen entspricht. Ich bin es nicht.“
Damit dreht sie sich um und geht. Eine versteinerte Designer-Göttin hinter sich lassend.


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