Birgit Loos

Wer ist der beste Koch im Land?

Das war eine Überraschung. Sabine musterte den jungen Mann, der vor ihr stand und sich um die ausgeschriebene Stelle in ihrem kleinen, aber feinen Kinderhort bewarb. Er war schlank, fast dürr. Bartlos. Braune, sanfte Augen. Hornbrille. Er sah aus wie ein Nerd. Einer dieser zerstreuten Wissenschaftler, die in ihrer eigenen Welt leben. Sie überprüfte seine Zeugnisse. Diese waren erstklassig. Mindestens drei Luxushotels und ein Gastro-Tempel füllten seine Vita. Wieso wollte er mit diesen Referenzen bei ihr arbeiten? Sein Talent mit dem Kochen von Haferbrei und Mittagessen für sieben Kleinkinder verschwenden? Das passte nicht zusammen. Er war nervös. War er ein Pädophiler? Einer, der durch den Job an Kinder herankommen wollte? Diese Möglichkeit musste sie in Betracht ziehen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass sich ein bestens ausgebildeter Koch auf ihre Anzeige melden würde. Mit diesen Zeugnissen konnte er überall arbeiten. Was stimmte nicht mit diesem Menschen?
„Okay, was stimmt nicht mit Ihnen?“ Sie konnte ihre Neugier, ihr Misstrauen nicht länger verbergen. „Wieso wollen Sie ausgerechnet diese Stelle haben, wo sie mit Ihren Zeugnissen wesentlich besser bezahlte Arbeit finden könnten?“
Er scharrte nervös mit den Füßen, tastete mit den Händen nach seiner Hornbrille, versicherte sich, dass diese korrekt saß. Mehrfach räusperte er sich, bevor er zu sprechen begann:
„Ich weiß, es muss Ihnen seltsam vorkommen. Ehrlich gesagt, war es eine spontane Reaktion. Ich habe meine letzte Stelle gekündigt. Zu viel Stress. Verstehen Sie. Ich war völlig ausgebrannt. Deshalb dachte ich, Theo nimm dir ein paar Monate frei. Aber von etwas muss der Mensch leben. Als ich Ihre Anzeige sah, war das wie ein Wink vom Schicksal. Wie stressig kann es sein für einige Kinder zu kochen? Aufräumen und putzen sollte kein Problem sein. Ich weiß, worauf es ankommt, in Sachen Hygiene. Das gehört zu meiner Ausbildung dazu. Lassen Sie es uns doch probieren. Sagen wir zwei Wochen. Danach können Sie mich entweder feuern oder fest anstellen. Was denken Sie?“
Sabine biss sich auf die Lippen. Außer Theo Nadler hatte sich niemand auf ihre Anzeige gemeldet. Im Gegensatz zu ihm war sie ein Totalausfall als Köchin. Sie kümmerte sich lieber um die Kinder. Basteln, malen, spielen, ihnen vorlesen, das liebte sie. Wenn sie ihn einstellte, konnte sie sich voll und ganz auf die Betreuung der Kleinen konzentrieren, während Theo kochte, einkaufte und aufräumte. Alles Tätigkeiten, die Sabine hasste.
„Mögen Sie Kinder?“, fragte sie im Laufe des Gesprächs. Vergeblich überlegte sie, wie sie ihre ursprüngliche Frage formulieren konnte, ohne ihn zu beleidigen.
Ein Blick aus rehbraunen Augen traf sie. Verständnisvoll lächelnd.
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich hatte bisher nicht viel mit Kindern zu tun.“ Er holte tief Luft und fuhr fort: „Die Antwort auf ihre eigentliche Frage lautet: Nein, ich bin kein Pädophiler. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein polizeiliches Führungszeugnis besorgen. Ich versichere Ihnen, gegen mich liegt nichts vor.“
„Gut!“ Sabine gab nach. „Zwei Wochen zur Probe. Dann reden wir weiter.“

Nach Ablauf der Frist war Sabine klar, Theo war ein Genie. Die Kinder liebten ihn. Sie mochten seine Gerichte, die er für sie kochte. Er zeichnete mit Obst- und Gemüseschnipsel Gesichter, Autos, Blumen, Elfen und Einhörner auf ihre Teller. Er fragte nach ihren Wünschen. Dabei schaffte er es die vielfältigen Anliegen der Eltern ebenfalls zu berücksichtigen. Er beachtete die Laktoseintoleranz von Gavin, die Nussallergie von Lisa. Er kochte für Jasmin vegan. Alles war perfekt. Bald schon konnte sie sich nicht mehr vorstellen, ohne Theo zu sein.

Eines Tages kam Sabine mit ihrer kleinen, aber lautstarken Truppe vom Spielplatz. Sie fanden Theo in der Küche. Er starrte regungslos vor sich hin, schien niemanden wahrzunehmen.
„He, Theo! Was gibt es zu essen? Wir haben Hunger?“, fragte die kesse Jasmin, wie immer an erster Front.
„Hunger! Hunger! Hunger!“, schrien die anderen Kids und tobten durch die Küche. Mit einem Ruck kam Theo in die Gegenwart zurück. Er sah sich um, als wäre er an einem fremden Ort aufgewacht. Mit beiden Händen fuhr er sich über das Gesicht und durch die Haare. Verlegen sah er Sabine an.
„Es tut mir leid. Ich....“ Er unterbrach sich. Suchte nach Worten. „Ich habe eine schlechte Nachricht erhalten und bin völlig durch den Wind. Ich habe die Zeit vergessen. Es kommt nicht wieder vor.“
Sabine drückte ihm die Schulter. „Das tut mir leid, Theo. Möchtest du nach Hause gehen? Ich bestelle für uns beim Italiener Spaghetti. Für einen Tag wird das gehen. Oder benötigst du längeren Urlaub?“
Theo stand auf. Entschlossen band er sich die Schürze um, öffnete die Speisekammer und inspizierte diese nach Essbaren.
„Nein, danke. Das ist nicht nötig. Ich brauche keinen Urlaub. Selbstverständlich koche ich für die Kinder. Spaghetti mit Tomatensauce habe ich im null Komma nix fertig.“
Mit diesen Worten holte er Tomaten und Zwiebeln hervor und begann sie klein zu schneiden.
„Es tut mir leid, Sabine. Ich wollte Dir keine Unannehmlichkeiten bereiten. Am besten Du liest den Zwergen etwas vor. In etwa zwanzig Minuten können wir essen.“ Er schob sie aus der Küche, tat so, als wäre nichts gewesen. Sabine nahm sich fest vor, Theo heute – sobald die Kinder abgeholt waren – nochmals in die Mangel zu nehmen.

Entschlossen stellte sie sich ihm in den Weg, als er am späten Nachmittag das Haus verlassen wollte.
„Warte einen Moment, Theo. Wir müssen reden,“ hielt sie ihn auf. Er machte ein Gesicht, als würde sie ihn zum Schafott führen, statt in die Küche.
Sie stellte jedem ein Glas frisch gepressten Orangensaft hin, dann begann sie mit ihrem Verhör:
„Raus mit der Sprache. Was läuft hier? Du siehst aus, wie dein eigener Tod.“
Er seufzte abgrundtief: „Ich will Dich damit nicht belasten.“
„Das tust du aber. Du warst heute unkonzentriert, hast die Kinder entweder gar nicht beachtet oder sie angeschnauzt. Das geht so nicht. Ich will mir keine Beschwerden von Helikoptereltern anhören müssen, weil Du dich nicht im Griff hast. Rede mit mir. Ich will Dir helfen.“
Ein neuer schwerer Seufzer entfuhr Theo. „Du wirst mich für verrückt halten.“ Erneut holte er tief Luft, bevor er mit der Sprache herausrückte: „Ich werde verfolgt. Jemand versucht, mich umzubringen.“
Entsetzt riss Sabine die Augen auf: „Was um Himmels willen soll das heißen?“
Theo zögerte einen Moment: „Ich habe keine Beweise. Es ist nur...Ach, ich kann es nicht beschreiben. Dieses komische Gefühl, dass jemand hinter mir her ist. Meine plötzlich auftretende Krankheit. All das.“
„Du bist krank? Warum hast du mir das nicht gesagt?“, unterbrach ihn Sabine.
„Weil mir nichts mehr fehlte, als ich mich beworben habe. Es gab nur einige geringfügige Nachwirkungen.“
„Welche?“ Sabine sah ihren Koch streng an. Wie konnte er ihr solch schwerwiegende Dinge verheimlichen?

Theo begann zu erzählen: „Es fing bei meiner letzten Arbeitsstelle an. Ich habe mich gegen etliche Konkurrenten durchgesetzt, um dort als Koch arbeiten zu können. Der Besitzer des Gastrobetriebes ist selbst ein Sternekoch. Ich war auf Wolke sieben. Leider lief es nicht wie geplant. Am Anfang waren die Gäste zufrieden, lobten mich über den grünen Klee. Dann passierten eine Menge seltsamer Dinge. Versalzene Kartoffeln, Schnecken im Salat. Zuerst dachte ich an einen eifersüchtigen Arbeitskollegen. Manche Köche sind größere Zicken, als so jedes Model. Ich passte auf wie ein Schießhund, dass sich niemand an meinen Gerichten verging. Aber es wurde schlimmer. Ich fand Blut auf meiner Puddingkreation. Ein abgeschnittener, blutiger Hühnerflügel ragte aus einem Topf mit Spargeln, den ich kurz zuvor aufgesetzt hatte. Ich griff nach der Grillsauce, um die Koteletts zu marinieren, und hatte eine stattdessen eine Schale mit widerlich stinkendem Hühnerblut in der Hand. Niemand hatte etwas gesehen. Der Chef wollte kein Aufsehen. Er verbot mir die Polizei einzuschalten. Miese Presse könne er nicht gebrauchen. Ich wollte keinen Ärger mit ihm. Denn das würde bedeuten, dass ich niemals mehr einen Fuß auf die Erde bekomme. Kein Betrieb, der etwas auf sich hält, wird mich einstellen, wenn er mich diskreditiert.“
Theo holte Luft. Es war ersichtlich, wie erleichtert er sich fühlte, endlich seinen Kummer laut aussprechen zu können. Er fuhr fort.
„Dann wurde ich krank. Ich konnte nichts mehr bei mir behalten. Ich verlor Gewicht. Jede Menge. Hatte Magenkrämpfe. Meine Augen wurden schlechter. Mir ging es beschissen. Die Ärzte hatten keine Erklärung dafür. Dazu kam dieses permanente Gefühl verfolgt zu werden. Ich weiß, wie das klingt. Als wäre ich völlig durchgedreht. Aber ich leide nicht unter Verfolgungswahn. Ich bin mir sicher, dass mich jemand töten will. Das Problem ist, ich kann es nicht beweisen. Letzten Endes musste ich die Stelle aufgeben. Ich bin quer durch Deutschland gezogen, habe mich hier verkrochen. Langsam ging es mir besser. Ich erholte mich. Dann las ich deine Anzeige und dachte mir, versuche es. Klar, ich kann hier keine Haute Cuisine kochen. Aber das ist mir egal. Es war ein Anfang. Nach und nach begann ich wieder zu leben. Bis heute Morgen.“
„Was war heute Morgen?“
Theo stand auf, holte den Abfalleimer hervor und zeigte hinein. Sabine beugte sich darüber und fuhr mit einem lauten Schrei zurück. Eine tote, blutige Ratte lag in dem Eimer.
„Es fängt wieder an,“ flüsterte Theo. „Ich muss gehen. Ich bringe Dich und die Kinder in Gefahr, wenn ich bleibe. Sie wollen mich fertigmachen.“
„Sie? Wer sind sie?“, wollte Sabine mit allen Anzeichen des Entsetzens wissen.
Theo hob resigniert die Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Aber diese ergeben keinen Sinn, wenn man es logisch hinterfragt.“
„Und was vermutest du?“
„Mein Ex-Chef oder einer seiner Mitarbeiter.“
„Wie bitte? Warum sollten die das tun?“ Sabine sah ihn skeptisch an.
„Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Wie ich dir sagte, es macht keinen Sinn.“ Resigniert stand er auf und deutete auf den Eimer.
„Ich werde das Vieh jetzt erst einmal entsorgen, dann hau ich ab. Besser für alle Beteiligten.“
Sabine war nicht bereit, Theo gehen zu lassen. Es gab für jedes Problem eine Lösung. Man musste nur gründlich darüber nachdenken. Eine tote Ratte war in ihr Haus gekommen. Eventuell hing es mit Theo zusammen. Aber vielleicht gab es eine vollkommen andere Erklärung. Deshalb redete sie auf ihren Koch ein, nicht gleich alle Brücken hinter sich abzubrechen, sondern erst einmal in Ruhe abzuwarten.
„Willst du ein Leben lang auf der Flucht sein?“, fragte sie ihn. Selbstverständlich verneinte Theo. Er blieb. Vorerst, wie er betonte.

Die seltsamen Vorfälle hörten nicht auf. Sie wurden mehr. Sabine und Theo fürchteten um das Wohlergehen der Kinder. Es musste etwas passieren. Trotz alledem weigerte sie sich, ihren Koch gehen zu lassen. Sie hasste unlösbare Rätsel. Deshalb ließ sie heimlich im Haus Kameras installieren. Sie rechtfertigte das vor sich mit ihrer Sorgfaltspflicht gegenüber den Kindern.
Tagelang geschah nichts mehr. Sabine und Theo atmeten auf. Theo gab zu, er könnte sich geirrt zu haben. Er wollte sogar einen Psychiater aufsuchen, weil er mittlerweile selbst davon überzeugt war, unter Verfolgungswahn zu leiden. Sabine unterstützte ihn hierbei. Sie ließ die Kameras wieder abbauen.

Zwei Tage später fanden die Kinder und Sabine Theo bewusstlos in der Küche liegend. Alle Versuche, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen, waren vergeblich. Sabine rief die Rettung an, dann die Eltern der Zwerge und bat sie, diese abzuholen. Die Kinder waren aufgeregt, weinten. Sie hatten Angst.
Sobald das letzte Kind abgeholt worden war, setzte sich Sabine in ihr Auto und fuhr ins Krankenhaus. Theo lag auf der Intensivstation. Sie durfte nicht zu ihm. Niemand klärte sie darüber auf, was ihm fehlte. Sie war keine Angehörige. Trotz ihrer langen Gesprächen, hatte sie keine Ahnung, ob er Familie hatte oder nicht.
Nach endlosem Hin und Her durfte sie endlich zu Theo. Er lag in dem Bett wie aufgebahrt. Etliche Kabel und Schläuche hingen an ihm. Sabine streichelte über seine Haare. Sie hoffte inständig, er würde schnell wieder aufwachen. Sollte sie den Ärzten Theos Vermutungen erzählen? Der Verdacht, Theo sei vergiftet worden war nicht von der Hand zu weisen. Aber von wem? Was war geschehen in dieser Stunde, in der sie mit den Kindern unterwegs gewesen war? Musste man nicht die Polizei informieren? Fragen über Fragen. Sabine stöhnte leise auf. Sie entschloss sich, erst einmal abzuwarten, bis Theo aufwachte. Falls er überhaupt das Bewusstsein wieder erlangte. Die Haltung der Ärzte und der Schwestern machten ihr wenig Hoffnung. Theo sah so hilflos aus. Allein. Sabine brachte es nicht übers Herz, ihn sich selbst zu überlassen. Nein! Sie beschloss, zumindest die heutige Nacht bei ihm zu verbringen. Sie würde seine Hand halten, mit ihm reden. Er sollte spüren, dass es jemand gab, der sich für ihn interessierte. Dem er wichtig war.
Doch die Schwester machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Kurz vor Schichtwechsel schickte sie sie weg. Sie könne hier nichts tun. Herr Nadler erhalte die beste Betreuung, die er sich wünschen könne.
„Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich aus,“ forderte sie Sabine auf.
Resigniert gab sie nach.

Bei ihr zu Hause herrschte Chaos. Lebensmittel lagen herum, Stühle waren umgeworfen. Schmutzspuren von dreckigen Straßenschuhen überall in der Wohnung. Sie betrat die Küche. Der weiße Briefbogen fiel ihr sofort auf. Der hatte zuvor nicht dort gelegen, dessen war sie sich sicher. Sie hob ihn auf, las ihn. Entsetzt sank sie auf einen Stuhl. Mit zitternden Händen holte sie ihr Handy hervor, rief die Polizei an. Die Nachricht schob sie weit von sich weg, so als könnte sie die unheilvolle Botschaft, die diese enthielt, so aus ihrem Bewusstsein schieben. Erneut fiel ihr Blick auf die Zeilen. Ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle. Sie sprang auf und rannte wie von Furien gejagt aus dem Haus. In ihrem Kopf hämmerten die Worte des unseligen Briefes:

Wer ist der beste Koch im Land?
Bald ist er überall bekannt.
Der Nadler ist es nimmermehr.
Für ihn muss jetzt ein Grabstein her.


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